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Das hier ist ein Fiebertraum, verteilt auf mehrere Tage. Noch mehr als sonst, ein Becken voller verschiedenster Strömungen. Ganz so, als hätte es das gebraucht, als wäre es nie anders gewesen. Du hinterfragst die gängigen Karrierekonzepte, die, die aus Einzelsträngen bestehen; eine Art dünnes Seil, nein, eher mehr Faden als das. Nein, nicht der rote, den nur man selbst sehen kann.

Moneybrother - Blow Him Back Into My Arms // Bilderbuch - Taxi Taxi


Interlude. Ich.

Zeit mal wieder zurückgedreht. Es ist der dritte März, spät am Abend, und ich denke das erste Mal sie haben einfach resigniert, sie werfen uns vor und unter den Bus und dabei kennen sie die Modellierungen, sie kennen Langzeitfolgen, die jetzt schon übervollen Rehas. Nach einem Symposium, das direkt vor der MPK stattfand, habe ich viel zu lange auf etwas gewartet, das bis heute nicht kam: ein konkretes Ziel, konkrete Umsetzungen von Vorschlägen, Langfristigkeit, Verbindlichkeit. Stattdessen Kurzfristigkeit. Es heißt allerdings nicht Economy vs Health, das sagen nur die, die es noch immer nicht verstanden haben. Es heißt fucking Economy thanks to Health.
Die Wut kriege ich wochenlang nicht aus dem Kopf, eigentlich bis heute nicht.
Ich stelle mir vor, wie manche aus der Wissenschaft insgeheim irgendetwas auseinandernehmen wollen. Stattdessen arbeiten sie und forschen weiter. Ich war lange Zeit kurz davor eines dieser unsäglichen J. Schweizer Erlebnisse für mich zu kaufen, das mich Autos auf Schrottplätzen verprügeln lässt. Natürlich mache ich das nicht. Ein bisschen Stolz bleibt bei mir immer übrig.

Da ist mein Freundeskreis, der sich wie ich auch an Regeln hält, mit dem ich mich seit Monaten virtuell treffe. Nur das eine Mal, wir erinnern uns, bin ich im November in echt in den Armen meines besten Freundes zusammengebrochen. Ich, wie ich dank der Anpassungsstörung weinend nicht aufhören konnte zu sagen ich weiß nicht, was gerade mit mir geschieht. Das war eine der wenigen Umarmungen seit Mitte November. Dafür dusche ich derzeit länger und heißer.

Ich verstehe die bräsigen Emotionalisierungsversuche Level "aber die Ostereier" oder das Feiern angeblich guter Entwicklungen dank Feiertagen nicht. Ich verstehe nicht, wie kognitive Dissonanzen existieren können, die das Erleben von Menschen im Gesundheitswesen negieren und trotzdem die Endverantwortung bei ihnen abladen. Ich denke an Londoner Freunde, die nach der Zeit im Dezember mit PTBS vom Feinsten zu tun haben, die sich trotzdem die Schuld dafür geben, dass sie nicht helfen konnten, während die Leute ihnen unter den Händen weggestorben sind. Ich verstehe nicht, wie man das maximale Leid anderer und volle Stationen als Maßstab nehmen kann. Ich verstehe nicht, wieso nicht verstanden wird, wie Wissenschaft funktioniert.

Letztes Jahr unterhielt ich mich mehrfach über die Frage, inwieweit die eigene Kunst politisch ist oder sein sollte. Ich wollte nie eine Angriffsfläche für Hass sein, und war deshalb nie so offen in meinen Arbeiten, aber vor allem, wenn man sie in die Zeit, in Kontext setzt, ist alles davon eine Reaktion auf Politik. Und damit politisch - bei mir nur eben meist auf gesundheitspolitische Themen bezogen. Oder wenn ich davon erzählt habe, wie mein Körper zu einem Politikum gemacht wird - vor allem von Fremden.
Sich grundsätzlich nicht politisch zu äußern ist in meinen Augen politisch. Wählen zu gehen, andere aufzufordern zu wählen, ist politisch. In dem literaturwissenschaftlichen Teil meiner Zeit in der Germanistik war die Beschäftigung mit den unterschiedlichen literarischen Epochen und Strömungen das, was mich erkennen ließ, dass auch Romantik und Biedermeier, wenn auch vermeintlich überhaupt nicht politisch, es eben doch sehr waren. Die vermeintliche Abkehr vom Weltgeschehen ist eine politische Entscheidung. In der Musik auf die eigene Lebensrealität zu reagieren oder sie zu beschreiben, ohne sich spezifisch mit Parteien zu beschäftigen, ist politisch, mindestens, wenn alles in den Gesamtrahmen gesetzt wird, in deinen Alltag. In welcher Zeit bist du aufgewachsen, welche Umstände haben dich geprägt, worauf genau reagierst du?
Ich bin aufgewachsen mit einem Vater, mit dem ich in Regelmäßigkeit Bundestagsdebatten geschaut und diskutiert habe, ich saß in Sitzungen des Sächsischen Landtags, ich debattiere gern und viel über Politik. Seit London habe ich eine tiefe Abneigung gegen die Tories, und ich war lange Zeit viel mehr politisch im UK verwurzelt als in Deutschland. Umso mehr verstehe ich, wie oben beschrieben, nicht, was momentan schlichtweg nicht passiert. Wir könnten jetzt schon an einem anderen Punkt sein. Stattdessen werden zwei Monate verspielt und Eigenverantwortung™ propagiert. Eigenverantwortung™ first, Bedenken second. Ah ja. Wir sehen ja, wie gut das bisher geklappt hat. Wütend argumentiere ich voran.

Letzte Woche also erst Schüttelfrost, dann Fieber, dann Träume, die sich durch alle Bereiche meines Lebens wüten. Es lässt sich gut loslassen, ähnlich, wie in solchen Momenten die innere kritische Stimme ruhiggestellt ist und es sich dann erst recht lohnt zu schreiben. Auf einmal träume ich von der Endosymbiontentheorie oder der (nicht vollständigen) X-Inaktivierung ebenso wie von einem Gesicht an meiner Wange im Sommer. Ich stehe auf Kreuzungen, an denen ich viel zu lange nicht war, träume von Grundtönen, träume mich zu einer Zeit, wo die momentanen Umstände ein Präteritum sind. Die 33 wird wohl trotzdem flachfallen. Super.
Irgendwann muss ich wohl doch lieber zum Arzt. Da meine Symptome auch Symptome sein könnten, komme ich weder in die Praxis meines Hausarztes noch bekomme ich einen Termin für die spezielle Sprechstunde. Die Leitungen sind überlastet. Nach zwei Tagen gebe ich auf und lege mich lieber ins Bett und schlafe. Alle Selbsttests bleiben negativ. Fiebernd schlafe ich voran. No need to laugh and cry.

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Tristan Brusch - Fisch (Piano Version)

Die Rinnsäler, geronnen zu Flüssen in Tälern, stärker oder schwächer mäandernd. Da findet sich der Unterschied zwischen dem Behäbigen und dem Treibenden. Fahrt aufnehmen bis die Auen kommen. Vielleicht überträgt sich das Gegenteil dessen genau deshalb auf dich: Rastlosigkeit. Und da bist trotzdem du: am behäbigen Fluss.

In den Elbwiesen sitzen, müde beinahe verlorengehen, mitten im Zentrum. Ganz genau zuhören: Stadt und Atmen, das Poltern der schweren Gefährte, Stahl und Sandstein und der flaue Wind, der durch die Gräser fährt.

Bedřich Smetana - Má Vlast (My Country): II Vltava (The Moldau) as performed by James Levine & Vienna Philharmonics

How can anything be any thing at all? Wie kann ein Leben aus der Bahn geworfen werden, wenn es nie in geregelten Bahnen verlief? Seit Jahren geistern altmodisch klingende Namen durch deinen Kopf, du schreibst an einem mindestens ebenso lange. Du siehst die Figur hinter dem Namen in Fragmenten, du findest, dass das ein ziemlich gutes Format ist, das zur Zeit passt. Im Blick zurück entstehen die Dinge oder wie auch immer Tocotronic es meinten. Ein Überlegen, wie du diesem Charakter gerecht werden kannst, ob das bei den anderen Schreibenden auch so auf einmal kommt, ob sie gehen, ob sie bei ihnen bleiben oder wie viel davon sie selbst sind? Was hast du diese Frage immer gehasst. Wie viel bist du denn in Charakter X? Was von dieser Geschichte hast du denn selbst erlebt?

Du liebst es, wenn man nicht ganz genau weiß, was oder wen du beschreibst. Wie es irritiert, dass du hier viel zu oft du schreibst, aber ich, du, ihn oder sie meinen könntest. Wie du es spannend findest, etwas durch deine Augen, deinen Filter gesehen zu beschreiben und wie sehr es ansprechen kann, wenn du keine zusätzliche Trennschicht aufbaust. Wie das alles schon seine Richtigkeit hat, mindestens aber an mancher Stelle ein Augenzwinkern.

Katie Melua - Wonderful World // Day Wave - Potions

Dev & Scan: Foto Labor Service Görner, Dresden
(2007 abgelaufener gecrosster Fujichrome Provia 400F RHP III)