Meine Fingerkuppen riechen noch nach Salami, bei Instagram schreiben mir Fremde, dass ich wunderschön sei, ich verstehe den Zusammenhang nicht genau. Je mehr ich die Muskeln um meine Augenbrauen, um die Narbe zwischen ihnen, hinter meinen Ohren, um meine Mundwinkel entspanne, desto mehr zucken sie, desto mehr zuckt eines meiner Augenlider. Das mit den Augen musst du mir nochmal erklären; wie es kommt, dass das eine Auge eine entsättigtere Iris aufweist als das andere, wie es kommt, dass die eine Pupille größer ist als die andere, aber ich werde dich nicht fragen, so viel weiß ich jetzt schon.
Die Uhr meines Telefons geht zwanzig Minuten vor, in einem Versuch, nicht mehr zu spät zu sein. Früher immer die Zeit vergessen, nicht, weil etwas wichtiger war, eher weil ich nicht wusste, wie lang Zeit ist; das ist so ähnlich wie dieses Gefühl, das in meiner Magengegend vor sich her trampelt, damit ich mich endlich darum kümmere, es flüstert sei dir niemals bei irgendetwas sicher, wobei, nein, sei dir bei dir nicht sicher. Egal.
Über mich fliegt die ISS in circa sechs Minuten und alles draußen ist still.
Da, am Bahnsteig, da, in Wannsee, habe ich sie gesehen, wie sie auf die S7 wartete, wie ihr die Tränen herunterliefen und ich dachte zurück an die Zeiten, in denen ich an Bahnsteigen und in Zügen saß und mir das gleiche passierte. Also fragte ich sie, ob ich ihr helfen könne, also saßen wir ein bisschen nebeneinander und sprachen nichts weiter, also warteten wir auf die Einfahrt der S-Bahn, also setzten wir uns dann schweigend in den Waggon, also stieg sie zwei Haltestellen später aus, also nickte sie mir beim Aussteigen stumm zu. Ich saß eigentlich die ganze Zeit in der falschen S-Bahn.
Ich habe die Bücher gezählt über diese eine alte Stadt; ich kam auf zwei. Dann diese andere Stadt, die von früher, Regalreihen voll, als hätte jemand dafür bezahlt, als hätte jemand sich Mühe machen müssen. Dann also diese eine alte Stadt mit den zwei Reiseführern, da irgendwo, eingequetscht von Land und Wasser. Man kann fast alles erfahren, denn im Winter sehen die Leute in den Verkehrsmitteln bestimmt alle gleich aus, sie starren sowieso zumeist auf ihre Telefone und einander nicht mehr in die Augen.
An manchen Stoffen hängt viel Faden herab, so, als wäre das gewollt, aber dann sind die Züge wieder zu voll und ich kann dir nichts erzählen, aufzeichnen, aufschreiben, das von nachhaltiger Natur wäre, schließlich passiert gerade nichts. An sich ist das in Ordnung, schließlich ist eine Stadt per se nicht aufregender als die andere, es geht um die Menschen, mit denen du sie teilen willst.
Am Halleschen Tor stehen sie auf der anderen Seite und schauen mir beim Schreiben zu. Anschlussverbindungen und Leute, die sich ihre Rücken einrenken, der Geruch von Restalkohol und frisch Erbrochenem. In das Dunkle starren, das tagsüber ein Park ist, könnte auch ein Tunnel sein, wüsste ich es nicht besser.
Am Ende meiner Straße steht das Wasser in einem Graben, Fahrräder rollen durch den Schlamm. Jeden einzelnen Beleg aufgehoben, ähnlich wie die Fotos davon, hiervon. (Und die Metaebene, die prangere ich an.) J, der sagt, dass man mehr geben als nehmen sollte. Sich bei dem Gedanken zu ertappen, dass sich das Geben potenziert. Sehen, dass Netze funktionieren, die man begonnen hat zur Sicherheit aufzuspannen, vor langer Zeit. Für den Fall der Fälle.
Wollte schreiben, da in der U-Bahn, konnte nicht, auf einer Karte sieht das alles sehr klein aus, als könnte man alles zu Fuß erreichen, als könnte ich das alles mit dem Finger nachfahren, irgendwo, an einem anderen Fluß.
In dem Haus, da am Fluss, da in der Nähe der früheren Mauer, der Grenze, da am jetzigen Hauptbahnhof, in dem Haus, das aussieht wie eine Reise nach Hogwarts, wie eine Reise in dieses andere ähnlich dreinschauende Gebäude auf dem Campus der TU Dresden: Stille. Organe und Fehlbildungen und Krankheiten in Glasbehältern, in Aufbewahrungslösung. Ich lerne: es gab ein Spürwildschwein bei der Polizei, ich denke: dann kann auch ich alles sein.
So langsam wissen, welche Orte gemieden, vermieden werden müssen, an welche man ganz dringend gehen muss. Es treibt mich immer stärker wieder in die Arme von Bahnhöfen, früher verflucht, weil kalt und widerlich, jetzt wie in der anderen Hauptstadt an einem anderen dreckigen Fluss: verweilen um die Sehnsucht zu stillen nach Orten und Geräuschen, die nicht hier sind. An Bahnhöfen fragt niemand, wieso man da ist, man kann sehr lange alleine auf Bänken sitzen, Menschen zusehen, wie sie rennen, wie sie sich begrüßen, wie sie sich verabschieden, Sonntags einkaufen, man könnte sie zeichnen, man kann kathedralenartige Architektur verfluchen, kann Musik hören, der Bundespolizei beim Patrouillieren zusehen, man muss kein Ziel haben, man kann Fernweh haben oder Heimweh, je nachdem, wie sehr man den Ort schätzt, an dem man ist. Am Ende aber, glaube ich, war das dieser eine Blick, vermutlich dieser eine Blick, der in meiner Erinnerung so langsam beginnt zu verblassen, weil ich nicht genau weiß, was dieser Blick mir sagen will. Ich habe noch immer nicht gefragt, ich nehme an, es ist sowieso zu spät dafür.
Zumindest gehe ich alleine vor die Tür. Als hätte ich wochenlang niemanden gesehen, eigentlich habe ich wochenlang niemanden gesehen, aber der Kopf muss frei werden.
Dann laufe ich in ihn hinein und am Ende laufe ich an ihm vorbei. Ein Seufzen entwischt mir unter der lauten Klimaanlage neben den zugigen Fenstern. Es ist alles gut, es riecht ein wenig nach Staub, ich bin noch nicht einmal traurig. Da war auch nichts.
Am Eingang der Dauerausstellung höre ich zwei Frauen laut reden. Sie sitzen auf einem vereinfachten Modell eines Anatomischen Theaters. “But did you break his heart?” “Yes, I did, he was so… claustrophobic around me. He would make me feel guilty about doing things without him.” “Did you love him?” “Why would I feel bad about it if I didn’t?” Ich kann sie noch immer hören, da, vor den historischen Gerätschaften früherer Augenärzte, auch noch kurz vor der Hörsaalruine, in der sie Stühle umräumen und bei denen ich mich frage, wieso sie sie unbedingt in einem Sitzkreis arrangieren wollen.
Manche fahren über meine Freunde hinweg wie LKW, halten danach gelegentlich an und schauen sich um. Manche fahren einfach weiter. Die Angst davor, selbst auch wieder überfahren zu werden und die Erkenntnis, dass ich nur begrenzt etwas dagegen tun kann.
Ich habe mir Push-Benachrichtigungen eingerichtet, damit ich mitbekomme, wenn die ISS über meinen Kopf hinweggleitet. Ein wenig Sicherheit in dem da draußen. Wäre ich mal doch lieber nach London geflogen vor ein paar Monaten.
Es geht hier nicht um mich, man kann mich nicht lesen, das höre ich eines Nachts, manche Dynamiken verstehe ich nicht, davor habe ich Angst. Herr C. redet von früheren Überlebensstrategien, ich will aus meinem Kopf heraus.
Mit vier konnte ich lesen und schreiben, Fraktur, da kann man nicht alles verstehen, wenn man die Schriftform nicht gewohnt ist. Achtundzwanzig Jahre lang gelernt, wie ich alles konkret sagen kann, ohne, dass die Kryptik fehlt. Du könntest auch nach dem Schlüssel fragen. Auf der anderen Seite ist es für die Anderen einfacher - ich bin keine Kunstfigur, ich liege schon lange da, offen, man kann in mir blättern, durch mich scrollen und durch das, was ich denke und mich bewegt, bin buchstäblich fast nackt und ihr seid, du bist angezogen. Weiß nur nicht, ob das bei dir ein T-Shirt ist oder ein Wintermantel, unter diesem noch vier weitere Lagen. Diese auszuziehen tut nicht weh, im Gegenteil, das musst du aber alleine, von alleine, sofern du das willst, das macht niemand für dich.
(Meine Laken und mein Bettzeug habe ich geweißt und ich verschwinde darin ein bisschen, alles viel zu groß und zu klein. Ich brauche Menschen in meinem Leben, die damit umgehen können, wenn ich mal traurig bin und die dann nicht einfach verschwinden.)
Früher habe ich mit Liedern geantwortet. Vielleicht dazu auch noch der Versuch, Worte zu verwenden, eigene. Sich vornehmen, nachzuhaken, wenn man etwas nicht versteht, wenn etwas irritiert. Ich gewöhne mich zu schnell an Menschen und Konversationsintensitäten, im Innenhof haben sie vergessen, das Spielzeug aus dem bald gefrorenen Sand zu nehmen.
Dienstag. Ihre rechte Unterlippe sei taub, nun könne sie auch spüren, wenn es schlechtes Wetter gibt, ähnlich wie es die alten Leute erzählt haben in Verbindung mit Kriegsverletzungen. Mitten ins Trauma hineingesprungen, wir beide, sie hat selbst aber dazu nicht allzu viel gesagt.
Donnerstag. Dann, Routine, fast, eigentlich, Herzstillstand, Intensivstation, ich will am liebsten sofort in den Norden. Stattdessen in Wartezimmern weinen zwischen Hustenden und Schniefenden und mit Blick auf den Anmeldetresen. In meiner Erinnerung ist alles eine Frage der Perspektive, am Ende aber ist es kein Loch, keine Tür, eine Falltür vielmehr.
Freitag. Glück im Unglück, Fahrigkeit, über uns saugt jemand Staub oder versucht, die kleinen Abstände zwischen allem zu füllen. Jetzt ein Bohren, jetzt ein Flächenbrand im Kopf, Migräne, eine verquere Form von Selbstverständnis. Einfach alle Server neustarten. Ich spüre, wie sich alles abnabelt, weil ich nichts fragen kann.
Samstag. Endlich, die Beiden. Die Züge fahren sehr langsam vor der Klinik in Richtung Hauptbahnhof. Rauch und offenstehende Dachluken. Wir lachen im REWE Center, das zwei ehemaligen Fußballern gehört.
Sonntag. Still, die Wohnung. Sich verlaufen in den langen Gängen eines einzigen Hauses auf der Suche nach der Cafeteria. Immer in Kapellen oder Räume der Stille gehen, wenn sie geöffnet sind. Herzsprung. Hauptbahnhof, es riecht nach einer Mischung aus Bratwurst und Franzbrötchen. Am Eingang zur S-Bahn stehen und weinen, weil es nicht anders geht. Das erste Mal seit Monaten fühle ich mich so allein wie vor zwei Jahren, damals, als ich in der Klinik war. Aber das kann man auch niemandem sagen, ein “Du, ich glaube, ich hätte dich gern hier.”
Montag. Intermezzo. Langes Gespräch in der Nacht, Freunde, die einen vom Boden wieder auflesen.
Dienstag. Selbstkontrolle als Endgegner. Herr C. sagt, ich sei gerade in einer Schlaufe, das geht wieder vorbei. Ich möchte nicht, dass sich alles nur um mich dreht. Gerade, ein großes Mitteilungsbedürfnis. Manche nennen das Hilflosigkeit. Sich verorten im Fortschritt und die Grausamkeiten, die ich in Regelmäßigkeit im Elternhaus an den Kopf geknallt bekomme. Ich glaube, du hättest auch geweint.