September 8, 2018Keine Kommentare

180908

Zwölfter August

Tiergarten-Süd, 06:27
Bettflucht nach dem Vorabend. Finde Bilder, die ich nach dem Zuhause ankommen gemacht habe. Zeichne also Zellen mit und ohne Mikrovilli, wenn ich angetrunken bin. Nur der Golgi-Apparat sieht wie der lieblose Versuch eines Hundehaufens aus.

Neunzehnter August

Tiergarten-Süd, 21:14
Immer wenn ich Sehnsucht habe, beginnt mein Hirn auf Schwedisch zu denken. Ob es hilft „förlåt dig själv“ zu sagen?

Vierundzwanzigster August

Friedrichstraße, 17:30
Häuser von Pierre Koenig im Kopf. Stahl und Glas, Flachbau, Ausblick. Mehr als Quadrate, dann irgendetwas von Sibylle Berg, Meyerhoff und Teju Cole.

Siebenundzwanzigster August

Café Dix, 11:30
Berlinische Galerie und ich schaffe es nicht, nicht wütend zu sein, mich nicht zu schämen wegen meines Herkunftsbundeslandes.
E sagt „you’re a yummy pie, who wouldn’t want to have a piece of you“ und sie lacht dabei.

Achtundzwanzigster August

Gedenkstätte Deutscher Widerstand, 14:39
Bilder von Menschen, die Fremden, Bekannten oder Freunden beim Unterschlupf geholfen oder ihnen einen gegeben haben. Und ein paar hundert Kilometer weiter südlich haben sie Menschen durch die Straßen gejagt.

Neunundzwanzigster August

Tempelhofer Feld, 18:53
Wespen versus Naturradler. Die Südbahn hat mehr Läufer in meinem Tempo, Schnecke. Barfuss, Stroh in Kleinstteilen an meinen Socken.

Am Luftgarten, 20:19
Als würde der Himmel, dunkel, Sonnenuntergang, sich durch die Häuser bohren wie ein Sandsturm.
Panikattacke als Erinnerung an das, was ich vor Jahren hinter mir gelassen habe.

Einunddreißigster August

Sächsische Landesvertretung, 14:24
Zu sagen ich bin wütend ist eine Untertreibung. Im Teil einer Straße sein, in der man im Prinzip eingekesselt ist.

Ebenda, 15:17
Ein Mann mit Deutschlandfahne brüllt in die Redebeiträge der Demo, steht hinter den Polizeibussen. Manche schauen sehr panisch hinter uns alle, die Fotografen rennen. Ich glaube, ich habe Angst gesehen.
Dann erinnere ich mich an den Tag in Dresden, an dem Neonazis Pflastersteine nach mir und weiteren Passanten warfen, die Polizei untätig daneben.

Jungfernbrücke, 15:51
Um die Ecke der Landesvertretung ein alter DDR-Bau, ein paar Meter weiter der Kupfergraben. Zwei schwer bewaffnete Polizisten schauen einem Paar beim Angeln zu. Ein Fisch wird aus dem Wasser gezogen, die Polizisten direkt daneben, als würde gerade ein Schatz gehoben. So stehen sie mehrere Minuten da, die Anglerin lacht unentwegt, ich stehe gegenüber, auf der anderen Seite des Kanals.

Friedrichstraße, 16:30
Ich sortiere LPs, die ich mag, grundsätzlich innerhalb ihres Fachs nach vorne. Vinyl-Guerilla. Bis heute lange nicht mehr wegen eines Liedes auf Anhieb geweint. Dreams can be so cruel sometimes.

Erster September

St. Paulus Kirche, 15:30
Das Brautpaar und meine Freunde und ich, im Slav Squat auf den Stufen vor der Kirche, der Priester macht mit. Danach stehen wir natürlich nochmal brav.

BrewDog, 22:13
Fremde Augen beißen sich am Tresen in mein Gesicht hinein, ich warte auf etwas anderes. Mein Telefon bleibt dunkel.

Vierter September

Tiergarten-Süd, 07:12
Ein Traum, verquer. Eingeschlafen zu Podcasts, aufgewacht, nachdem in meinem Traum ein Hubschrauber mit seiner Kufe am Atomium hängengeblieben ist. Es kippt um. Bin bisher weder in Brüssel gewesen noch habe ich in einem Hubschrauber gesessen.

Fünfter September

Kurfürstendamm, 14:21
Das Buch mit den sechshundert Seiten bewegt Menschen dazu, offensiv ihre Hälse zu renken, zu nicken. Manchmal wollen sie den Titel sehen und fragen danach, weil sie ihn wegen meiner Hand nicht lesen können. Bin verwundert, dass Genetik Leute so zu interessieren scheint.

Sechster September

Mitte/Kreuzberg - 18:17
Im Park so lange auf der Bank sitzen und lesen bis es zu dunkel ist. Dann so richtig einatmen.

Siebter September

Potsdamer Straße, 20:34
Mein Kiez ist sehr rau, denke ich, irgendetwas zwischen Schmirgelpapier und Kärcher. Dann ein Mann in Lederjacke, groß und stämmig, der auf einmal laut „I Wanna Dance With Somebody“ singt. Presse in meinem Kopf „Joy as an Act of Resistance“ in die Melodie des Refrains und kann bis zur Wohnungstür nicht aufhören zu lachen. Laufe konsequenterweise in einen der Poller vor unserem Haus.

Achter September

Tiergarten-Süd, 08:12
Die drei Notizhefte, die ich mit Joy, Love und Time beschriftet habe, als ich über die letzten Monate sinniert habe und der Brief der Rentenversicherung, der mir meine bisher gezahlten Beiträge zeigt. Denke an M, der mir gestern sagte, meine witzige Seite sei die, die man erst beim genauen Hinschauen bemerkt, nach der emphatischen, aber die Mischung mache es so besonders. Ich frage mich, ob ich zu loyal bin, ob das überhaupt geht.
In meinem Gesicht klebt Surgical Tape.

"I can go with the flow
but don't say it doesn't matter anymore"
(Queens Of The Stone Age - Go With The Flow)

April 18, 2018Keine Kommentare

180418

Du lächelst dich zu dem einen Lied, dessen Video du vor Jahren großartig fandest, durch den Abend. Irgendwo da drüben Gewitter, Unwetter. Du bist der feine Regen, aber du weißt, dass das nichts zu bedeuten hat. Vielleicht bist du von Anfang an ein Frühlingsgewitter gewesen. Von dir erzählen, ist das möglich? Die kleinen feinen Nuancen, die dir aufgefallen sind, Kopfbewegungen, Muster, Spieltriebe. Du fragst dich, was du gewesen bist.

Dann der Mann, der Blumen verkauft, Rosen, rot, im Bündel, zwei Pakete. Deine Fersen hast du blutig gelaufen. Fleischwunde, Blase, irgendetwas war zu klein. Ein roter Streifen aus Grind, die Möglichkeit einer Insel, die Möglichkeit einer Möglichkeit. Rosen, pink, der Mann, der sowieso nie kommt und die roten Zeichen, die die U-Bahn fast überfahren hätte. Ausstieg links.

Dir fällt auf, dass man überall verloren gehen kann, auch und vor allem in sich selbst. Du hast damit aber schon aufgehört, mit Leidenschaft.
Auf der Straße um die Ecke, genauer auf dem Bürgersteig, drei junge Männer vor einem kleinen Tisch mit einem noch kleineren Fernseher, je eine Flasche Gösser - dessen Geschmack du nie ganz nachvollziehen konntest, aber was weißt du schon, in London hast du immer Bananenweizen getrunken - und ein Kabel, das in ihre Wohnung zu führen scheint. Ein paar Meter weiter an dem einen Ufer, das Namen trägt, bei denen du gelegentlich schluckst, Ruhe. Es könnte fast die Côte d'Azur sein, wenn du die Augen schließt und nur lange und fest genug daran glaubst. Von dem großen Feld mit den beiden langen Betonbahnen klingeln dir noch die Ohren. 
Die Stadt hört sich für dich ganz anders an, vor allem, wenn du genau hinhörst. Bewusster, weniger selektiv wahrgenommen, du wählst die einzelnen Klangscheibchen aus, als würdest du bei einer Datei die eingefügten Formen der Reihe nach abklopfen.
Dann bemerkst du: an manche Stimmen kannst du dich nicht mehr erinnern, sie klingen nicht mehr nach in deinem Kopf, wenn du Worte der dazugehörigen Personen liest. Vielleicht noch ein Lachen, ein Einatmen. Normalerweise bist du sehr gut darin, in diesem Erinnern. Günter Litfins Grabstein steht alleine am Humboldthafen, manchmal setzt sich jemand neben ihn und hat ihn doch schon längst vergessen.

"we choose the way we'll be remembered"
(Her - We Choose)

Dezember 31, 2017Keine Kommentare

171231

Du trägst Murmeln mit dir herum, sie klappern bei fast jedem Schritt. Eigentlich wollte ich dir noch von Günter erzählen und dem Ort da am Wasser am Bahnhof am Betonstrand, wieso weiß ich nicht genau. Eventuell, weil ich schon angefangen habe, darüber zu schreiben. Wenn ich mir selbst ein Echo gebe, geht es für mich um etwas, zumeist um meine Zeit, zumeist um eine Sektion meiner inneren Schichten. Davonlaufen oder stehenbleiben oder beides im gleichen Moment.
Du lässt das alte Jahr ausklingen, ich zeichne an gegen ein Vergessen, nur meinem eigenen Gehirn muss ich im kommenden Jahr noch etwas beweisen. Das meiste ist nur in deinem Kopf, Projektionen, die sich durch die Gesichter und Pixel ziehen, Bildschirmoberflächen und die Suche nach etwas tiefem. Aber dann gibt es da Webseiten und Profile und Menschen, die gleichzeitig existieren und dann doch nicht mehr. Du starrst weiterhin darauf, ich gehe sicher, dass noch alles da ist, ohne selbst etwas zu tun. Von meinem sich weigern, jemanden an die weichsten Stellen meiner Haut zu lassen, den man schnell durchschaut hat, wie bei den anderen, ich langweile mich schnell. Von einem Zeit nach oben zählen. 

Ich trage leise Fragen mit mir herum, irgendetwas zwischen unbekannt und seltsam vertraut, deshalb verschlucke ich mich so leicht an ihnen.
Aber dann: kein Fahren ohne Anfahren. Fahr bitte los.

"I'll take a rest from walking too slow
I'm running too fast"
(WEBERMICHELSON - We take it slow)

Dezember 27, 2017Keine Kommentare

171227

Als gäbe es ein Fass in mir drin, eines, das aufnimmt, was mich umtreibt. Wenn ich will, möchte, muss, kann ich einfach das, was ich fühlen will, denken. Ein Hineindenken als wäre da etwas wie eine wohlig warme Decke, eine, von der ich denke, dass ich sie aushalten und tragen möchte. Früher immer nur ein Hineindenken, heute ein Wollen.

Von einem Gehen und Werden und der Frage, was mein Gehen bedeuten würde, würde ich bleiben können, sollen, dürfen. Ein Herausfiltern eines vielleicht. The suspense is killing me.

"bring yourselves to me"
(Rhye - Count to Five)

Dezember 12, 2017Keine Kommentare

171212

Du lässt dir generell viel Zeit, denke ich weiter und beschäftige mich wieder mit Fragestellungen, die ich alleine nicht lösen möchte. Auf der Haut über meiner rechten Clavicula ein Leberfleck, ansonsten der große Wagen auf dem oberen Teil meines Brustkorbes. Ich frage mich, wie sich eine Berührung davon anfühlt.

Berlinmomente, die sich durch alle Beobachtungen ziehen. Hier ein wenig Psychose, dort etwas viel Einsamkeit. Du vermutest, dass das etwas mit dem Wetter zu tun hat und hastest voran. Splitt, wieder, unter den Sohlen, das Gefühl, als könntest du eigentlich jetzt schon mit dem Schlitten fahren. Über Steine oder Schnee: es ist dir herzlich egal, vielleicht läufst du aber doch lieber.

Deine Muskeln erinnern sich an das letzte Mal, als du sie benutzt hast, ein Wurf nach der länger verschwundenen Kondition hin und Kälte, wenn du dir dann nachts beim Schlafen doch wieder diesen einen Nerv einklemmst und beim Aufwachen lachen musst. So ein Moment.

Du verortest dich regelmäßig, täglich fast, du hörst aufmerksam zu, schreibst gelegentlich mit. Die Poesie der Zwischenzustände, alles auf dem Weg zum Anderen. Wenn du nach etwas Bestimmtem suchst, bist du auch nur an einem zukünftigen Zwischenzustand interessiert. Du weißt, dass du wirst, du weißt, dass du nicht aufhörst zu werden.

Dinge, von denen ich nicht wusste, dass sie durch meinen Kopf fliegen. Ich habe das Gefühl, ich muss mich wieder schreiben.

"it's unfortunate but when we feel a storm"
(Massive Attack - Paradise Circus)

Oktober 10, 2017Keine Kommentare

171010

In meinem Pass steht etwas von blau-grau, ein paar Nummern unten und oben rechts. Ich frage mich, was die Handwerker, die unsere Heizung repariert haben, die ganze Zeit machen. Das Wasser plätschert jetzt nur so durch den Heizkörper.
Gelegentlich das Gefühl, alle finden bald heraus, dass ich das, was ich kann, eigentlich nicht richtig kann. Hochstapler-Syndrom, nichts da mit ICD-10 oder dem DSM-V. Lebensgefühl, Lebensbefürchtung. Seit fast fünf Monaten medikamentenfrei, im Kopf allerdings schon lange an einem anderen Ort.
Ich dünste Gemüse, kaufe frisch ein, halte Ordnung. Morgens wache ich auf ohne mich zu fühlen als hätte ein Traktor mich überrollt. Meist stehe ich nicht auf, wenn ich das erste Mal meine Lider für den Tag öffne. Auf meinem Nachttisch ein Wecker, der meinen Vornamen trägt und unangenehm laut tickt und noch viel schlimmer klingt, wenn er läutet.
Die Frage früher, also damals, wie die normalen Leute planen und sich motivieren und wie sie erkennen, dass sie Ziele haben. Ich möchte wissen, wie es denen geht, die ich kurz kannte. Jahrestage, die sich überschlagen, Besuche, Bedauern, Retraumatisierung, ein geplatzter Knoten. Zwei Bücher in Erinnerung. Eines, da war ich vier und konnte Fraktur lesen und schreiben - Märchen; eines, da war ich sechs und wollte mir die ganze Zeit Krankheitsbilder ansehen, auch wenn ich von den Erläuterungen eigentlich nichts verstand: Psychrembel. Jetzt bedeutet elf Auflagen später.

Auf meinem Ausweis steht etwas von blau-grau, ich frage mich, ob sie nie richtig hingesehen haben. Mein Gesicht als Hologramm, daneben, Haare wie ein Helm. Im Spiegel ist da Wald und an einigen Tagen in besonderem Licht auch Beton, am anderen Ende von diesem Kranz um den Lichtstrahl wohl vom Namen her mehr waldartiges.
Ein Jahr und letzte Stufen Abgrund bevor die Genesung so richtig einsetzen konnte. Teilweise Fremden dabei zusehen, wie sie über meine klar gezogenen Grenzen trampeln, sich fragen, was Menschen dazu berechtigt, dass sie in Leben preschen. Ein Jahr, in dem ich auf die harte Tour gelernt habe, was toxisch ist, was auf die Rückbank gehört und irgendwann zu vergessen ist. Denken und sich lieber erinnern an das und die, die nie nur Dickicht oder eine exotische Topfpflanze sahen.
Weißt du, in meinem Gehirn gibt es einen eineindeutigen Ort, in dem du wohnst, im besten Fall lebst du in mehreren. Vielleicht ist das der Spuk, von dem manche sprechen. Deine Ecken und Kanten konnte ich nie ganz ausloten, meine waren eher wie der Marianengraben. Weißt du, der Konjunktiv ist niemandes Freund, aber besser ein Lernen im Großen und Kleinen als ein langsames Ablösen.

Weißt du, große Fenster sind mein Fluch und mein Segen zugleich. Möglicherweise ist das hier das größte Fenster, das ich habe. Früher, beinahe ein von außen auf mich selbst sehen, eine Rekonstruktion von Teilchen, die in Chronologie nicht immer ein Ganzes bilden.
Ich wollte dir hier in Regelmäßigkeit etwas hinterlassen, eine Art Haltegriff, eine Art warme Decke. Weißt du, es gibt mehrere Versionen von dir, du bist alle Personen, die ich kenne, du bist nur eine Person davon.

(Andrew Bird - Roma Fade)

August 27, 2017Keine Kommentare

170827

Ich wünsche mir ein Haus, von dem ich erzählen will, keinen Kokon, der mich traurig macht. Keinen, in den ich schon lange nicht mehr hineinpasse. Das ist wie mit einem Handschuh, der einem zu klein ist und dessen Nähte sich in die Nagelbetten der Fingerkuppen einschneiden, kurz vorm Bluten.
Manchmal braucht es eine andere Stadt um zu sehen, dass die Stadt, in der ich lebe, wie ein Buch ist, das mir nichts mehr sagt.

Du weißt schon: das geht bestimmt alles weg vom Herzen und dann wiederum irgendwann zurück dahin.

Hurray for the Riff Raff - Hungry Ghost

August 25, 2017Keine Kommentare

170825

Erdbeben in mir drin, die Plattentektonik der Ziele. Letztendlich bewegt sich alles, schon immer, in gewissen Bahnen. Nur haben viele andere darum schon immer gewusst. Wie fühlt es sich an, auf dem richtigen Pfad zu sein, was ist Motivation? Da war nicht nur Pulver, da gab es keine Mosaike, da waren etwas größere Puzzleteile - nicht die 5000 Teile Puzzles, die Fotos von Himmeln darstellen sollen und an denen man verzweifelt, weil partout nichts passen mag.

Der Jahre verschlingende Irrtum, man sei kaputt, ein tiefer Graben, ein schwarzes Loch. Eines, das lebenslang darauf angewiesen ist, Medikamente zu nehmen, in Therapie zu sein. Ich bin mein eigener Atlas, kann alleine, kann selbständig gehen. Bin oft auf mein Steißbein gefallen und habe mich gewundert, wieso da nie etwas gebrochen war. Aufgestanden mit Hilfe, wenn es von allein dann doch nicht mehr ging.

Machen, was man macht, weil es für einen selbst ist, nicht, weil man jemand anderem nacheifert.
Der Wunsch nach einer geradlinigen Biographie, das vielleicht, weil alle es wollen und suchen in allen Ecken; die Vorstellung, dass das trotzdem nicht passen wird. Die Herausforderung, sich nicht zu sehr in die Ängste hineinzusteigern. Das Aufbäumen gegen die Pathologisierung von allem. Spezielles und Ups und Downs und der Wunsch, Wege zu gehen, von denen ich jahrelang nicht wusste, dass ich sie gehen muss.

In mir drin immer noch ein stetes Beben.

HELMUT - Silence Suits You

Mai 7, 2017Keine Kommentare

170508

Am Gleisdreieck fliegen die Pollen zwischen meinen Füßen hindurch, sie knüllen sich zu einem Haufen, bleiben liegen in der einen Ecke in der Sonne, da an der Mauer, die gen Süden zeigt und an die ich mich gerne anlehne, wenn ich auf etwas warte oder einfach nur durchatmen will. Ich höre die Züge der U2 und U1 im Haus hinter mir vorbeidonnern, der Boden vibriert etwas, die Backsteine an meinem Rücken ebenso. Selten warte ich hier auf irgendetwas. Ich hasse es zu warten, ich habe achtundzwanzig Jahre gewartet, egal auf was oder auf wen, vielleicht komme ich deshalb immer zu spät.

Sie sagen, die Farben in meinen Augen haben unterschiedliche Tiefen, mindestens unterschiedliche Ringe, mindestens ein Wechseln wie die Jahreszeiten. Die einen sagen, ich sei tough, die anderen sagen, ich sei wie eine Wand, die nächsten ziehen Vergleiche zu Stargate um zu verdeutlichen, dass manches in mir in eine andere Dimension zu gehen scheint, während ich unbeweglich bleibe.
Das alles registriere ich schon. Feine Seismographen in mir drin, manches Mal sogar etwas zu fein. Dann: manches, zu dem ich mich gar nicht artikulieren kann, weil ich die Gefühle sortieren muss, jenes, zu dem ich mich nicht artikulieren will und es trotzdem mache, obwohl es schmerzt wieder zurückzugehen in die letzten zwei Jahre. Man denkt, es sei einfacher, sich nicht mit sich selbst zu beschäftigen. Aber im Endeffekt ist es nur ein kleines bisschen Dunkelheit.
Wenn man allerdings einmal durch sie hindurch ist, durch den tiefsten Dickicht - anderes Licht, wie in Wäldern mit Nebel und Lichtungen und Sonnenaufgängen.

Dann die Fragen an mich: warum hängst du eigentlich immer noch an all diesen Eventualitäten? Weil ich, wenn ich etwas wirklich will, nicht einfach so ablasse. Und wenn es dir nicht gut tut? Dann schreibe ich darüber und lasse irgendwann los. Wann ist irgendwann? Wenn ich anfange meinem früheren Gemütszustand hinterherzurennen. Was ist der? Der sagt, ich sei nicht wichtig - heute jedoch weiß ich, dass ich für mich alleine genug bin. Fein bin.

Im Haus gegenüber steht das Dachgeschoss leer. Kleine Fenster, man kann die Balken sehen. Treppen, darüber der Himmel und auf den Fensterbrettern Spikes gegen die Tauben.

“You’re not what you ache.”
(Corrina Repp - Live for the Dead)

April 10, 2017Keine Kommentare

170410

Das mit dem Atmen hatte ich nicht gewusst. Genauso wenig wie das mit den Knochen und dass das Skelett eines Erwachsenen nach zehn Jahren einmal komplett umgebaut ist. Dann ein Denken an den ersten Satz aus „Sterben“ von Karl-Ove Knausgård: „Für das Herz ist das Leben einfach: Es schlägt, so lange es kann.“

Vor zehn Jahren habe ich mich gefragt, warum manche Mitt-/Endzwanziger so dringend beschreiben müssen, wie es ist, Mitt-/Endzwanziger zu sein; wir alle und die Ideen, die wir davon hatten, wie man in einem gewissen Alter sein sollte, weil man sich danach sehnt, endlich fertig zu sein, so fürchterlich fertig. Weil einem niemand gesagt hat, dass man niemals jemals fertig ist, außer, man ist tot und selbst dann bleibt man nicht so, man bleibt nicht erhalten, nicht so, wie es manche Büsten versprechen oder Denkmäler.
Jetzt bin ich selbst in diesem Lebensabschnitt und möchte meinem zehn Jahre jüngeren Ich versichern, dass es nicht schlimm ist, nie fertig zu sein: in vielem beginne ich gerade erst und ich sträube mich doch davor, habe Angst, hätte doch eigentlich ein Konzept haben sollen. Meine biologische Uhr tickt nicht lautstark in meinem Kopf, ich wohne in einer Wohngemeinschaft, freue mich über Socken zu Weihnachten, weiß, dass man sich nicht selbst kasteien muss, um ein Recht zu haben, zu sein und weiß, dass das Bauchgefühl eins ist, auf das es häufiger zu hören gilt. Ich weiß, dass es Menschen gibt, die mich anziehen wie ein Magnet, dass das Angst macht und dass die Angst meist sagt „hier geht es lang“, wenn man einmal richtig in sich hinein hört.

Ich war sechs Jahreszeitenzyklen damit beschäftigt, mich von der Angst aus den ersten zwanzig Jahren meines Lebens zu erholen, zu befreien, freizurennen, freizuatmen, freizudenken. Da war ein „es wird alles gut“ und ein „es wird alles scheiße“ und mittlerweile überwiegt das erste, weil die Auswirkungen des zweiten mich nicht, genauer gesagt niemanden definieren und jetzt wird alles gut. Auch du hast viel zu geben; da waren Menschen, die mich nicht kannten und mir das Leben retteten und solche, von denen ich nicht möchte, dass sie mich je wieder so sehen müssen, wie sie es taten. Manches bleibt in dir drin, manche waren da, ohne, dass du es wusstest, manche werden dich von Zeit zu Zeit daran erinnern, wie es war. Von manchen wirst du die traurigsten Erlebnisse hören. Manche werden sie dir erzählen, weil du selbst herzzerreißendste Erinnerungen kennst, manche, weil sie wissen wollen, wie du reagierst.

Weißt du, in mir drin ist ein stetes Beben und je mehr ich daran zeichne und mich erprobe und je mehr ich in den letzten zweieinhalb Jahren gelernt habe, wie es ist zu fühlen, desto mehr wünsche ich mir, mich daran zu erinnern, dass ich nicht verlernt habe, wie es ist, die Beine in die Hand zu nehmen und zu rennen, weg, wie damals, vor zehn Jahren. Beine in die Hand nehmen und in ein anderes Land fliegen, mitten in mein Ich hinein, nur um festzustellen, dass ich nie weg war, nur der Fokus ein anderer. Ich weiß ganz genau, wie sich das anfühlt, aber da dachte ich eben auch, dass ich fertig sein kann. Fürchterlich fertig. Final. Ende.
So wirklich wegrennen will ich nicht, aber es zwiebelt und drückt und vielleicht ist das einfach nur die nächste Schicht Haut aus der ich wachse, weil mir die alte zu klein geworden ist, ich gewachsen bin, ich nicht nur erahne, was ich will sondern es aufschreiben und formulieren und aussprechen kann. Früher etwas weniger als ein Entwurf, etwas weniger als eine Idee, heute ein anfangs verstörendes Wissen.

(Der Herr Polaris - Uns Verbindet)

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