VI

Unsortierte Fragmente der letzten Wochen.

14:35 Uhr, Friedrichstraße
Es wird passieren, ich hoffe du weißt es noch immer.

14:45 Uhr, Kulturkaufhaus
They are very dreamy, but they are not the sun.

08:31 Uhr, Potsdamer Straße
Der Kopf immer noch eine Wetterumbruchstation. Viel zu hell, nicht zu laut, die Hauptstraße schläft, die Busse können pünktlich rollen.

10:12 Uhr, S+U Friedrichstraße
Der erste Saufkoffer des Jahres, der dein Blickfeld streift, steht fast vergilbt in einem der Souvenirläden, an denen du vorbeifahren musst. Während du dich fragst, was das soll, hast du “Menschen an einem Montagmorgen zum Lächeln bringen durch eigenes Lächeln“ zur Herausforderung deines Tages gemacht. Erfolgsquote 25%, Endgegner Regen.

18:37 Uhr, Kantstraße/Theater des Westens
Am Filmpalast wieder der Jazz. Der Mann mit Saxophon, der wie damals nach Fabian die Stadt vertont, als könnte sie nicht schöner sein. Neben dem S-Bahnbogen an der Bushaltestelle übergibt sich jemand auf die Reste einer Schranke.

17:08 Uhr, Tiergarten-Süd
Irgendjemand hat mit Kreide “Frieden“ und “Ruhm“ in Kinderschrift, aber auf Erwachsenenhöhe, mehr an die Hauswand gemalt als geschrieben. An die Wand, die selten Licht bekommt, vor der die Amseln für ihre Nester suchen und beinahe im Graubraun des nicht wachsen wollenden Rasens verschwinden.

13:45 Uhr, Potsdamer Platz
Schulklassen und (wieder) leere Betonsteppe. Menschen, die Schneisen fotografieren. Big City Life, this place is healing.
Kurzsichtigkeit als Standortvorteil. Nichts scharf sehen können ohne Sehhilfe bis circa 30cm vorm Gesicht. Damit strategische Nutzung des natürlich eingebauten Blur-Effekts im Sommer.


tl;dr I

Beginnen zu schreiben, einschlafen, vergessen, dass Textteile existieren. Komplett neu von vorn beginnen zu schreiben, abgelenkt sein, vergessen, dass Texte bestehen. Und von vorn. An all dem schreibe ich seit Wochen, wenn nicht gar Monaten. Das übliche du weicht einem ich, schlichtweg, weil mein Erleben in diesem Kontext nicht für andere sprechen kann oder will. All das wird aufgeteilt auf mehrere Texte, wird ähnlich umherspringen wie es teilweise in meinem Denken geschieht, getrennt nach Absätzen. Und inmitten der allseits bekannten Einträge, die hier zu lesen sind, sein. ADHS ist ein Teil von mir, ich bin zwar high-functioning im Vergleich, aber warum verdecken was ist.

Vor mehr als zehn Jahren schrieb ich über meine erste aktiv so benannte da diagnostizierte Depression. Während die Diagnose eine klare Benennung war, versuchte ich die Erkrankung und meine Wahrnehmung immer und immer wieder metaphorisch zu beschreiben. Sonst könnten Personen, die das noch nie erleben mussten, das nicht nachvollziehen. Dachte ich. Worte, auf die sich alle einigen können. Für die einen bedeutete das der schwarze Hund, für mich das schwarze Loch in meinem Kopf. Irgendwann fraß aber eben dieses Teile meiner Person auf und ich deutete mich in den schlimmsten Phasen dieser Erkrankung zu dem um, mit dem ich eigentlich nur etwas Abstraktes darstellen wollte. Um es greifbarer zu machen, um es verständlicher zu machen.
Da ging es hier um meine Therapiesitzungen, da ging es dort um alles zwischen ihnen. Allwöchentliches sich vor einer objektiven Person aus sich selbst schütten um sich in Textform wieder einzusammeln. Als wäre man ein Mosaik. Damals habe ich das unbedingt gebraucht - um mir eine fühlbare, mit dem Finger erkundbare Begrenzung zurückzugeben - und heute externalisiere ich auf ganz andere Art und Weise.

Schreiben war für mich schon immer eine Art direkter Zugang zu meinem Kopf. Eventuell, wahrscheinlich, womöglich, sagen das viele andere Schreibende ebenso. Das Sichtbarmachen von Gedanken, Prozessen hinter und mit eben diesen sowie das Verarbeiten verschiedener Perspektiven in mir selbst - das und viel mehr war und ist Schreiben für mich. Vieles sortiere ich erst so richtig in den Momenten, in denen ich damit spiele, eine Stimmung so zu kondensieren, dass es fast schon Stahlbeton sein könnte, oder sie so fließen zu lassen, als würde man dem Staub beim Fliegen in der Abendsonne zuschauen. Stahlbeton versus Gold, das sonst niemand sieht also. Das Gefühl im Detail erfrage, erschreibe, mache ich mir besonders in Textform greifbar. Benennen, was in meinem Körper ist, spürbar ist, bemerkt wird. Es benennen wollen, damit es nicht überlagert wird vom Kopf. Ohne Gehirn für keine Person jemals ein Gefühl. Welch Ironie.

Nach der Dusche nass in der Wanne stehen und feststellen, dass weder Handtücher noch Bademantel im Bad bereitliegen. Freunde, die zu Besuch kommen und mit mir zusammen den halb leeren Becher Joghurt vom Nachmittag auf der Waschmaschine vorfinden: ah, hier ist der? sagen, lachen und sich peinlich berührt umschauen. Wenigstens ist es nicht wie beim letzten Mal der gesamte Einkauf, den es zu kühlen gilt, den ich in der Küche auf dem Stuhl stundenlang habe stehen lassen und teilweise wegwerfen muss. Meist lachen die Freunde mit mir mit, erst seit letztem Jahr traue ich mich, ihnen diese Seite zu zeigen und nicht zu versuchen, dafür zu überkompensieren. Als würde ich in einigen Aspekten mein Gehirn austricksen müssen, damit es der Norm entspricht. Meist funktioniert das, früher trug dies zum Leidensdruck bei: wie anderen Menschen vermitteln, dass man unter etwas leidet, das diese noch nie in der eigentlichen, unkaschierten Vehemenz erlebt haben?

Zurückdenken an die Präparate im Medizinhistorischen Museum. Lungenflügel eines Nichtrauchers. Stracciatella. Ich denke an den Staub rund um die verschiedenen Bundesstraßen, die meinen Kiez kreuzen. Swiffern, Staubsaugen.

Vor etwas mehr als einem Jahr hatte ich ein ausführliches Diagnostikinterview um herauszufinden, ob bei mir tatsächlich eine ADHS - egal welches Subtyps - vorliegen könnte. Es würde bis Mitte Dezember dauern, bis es zu einer finalen Diagnose kam, seit Mitte des gleichen Jahres wusste ich schon um die Ergebnisse. Dazu gibt es zwar noch weitere Sachen die anmerkenswert wären, aber aus Gründen lasse ich diese aus. 
In der Zwischenzeit hatte ich mit der Ungewissheit auf der einen Seite und dem Gefühl des Ausgeliefertseins gegenüber Professionals auf der anderen zu tun. Die Suche nach inneren Leitplanken, die durch den gesamten Prozess erstmal ins Wanken kamen. Das einzig Gute in diesem Kontext an der Pandemie: wenn ich weine, egal ob vor Psychiater:innen oder vor meinem Freundeskreis, kriegt es niemand mit, Maske sei dank. Zwanzigeinundzwanzig war dadurch Fluch und Segen zugleich. Eine Benennung, ähnlich wie vor mehr als zehn Jahren mit der Depression, tat hier ihr befreiendes Übriges. Eine merkwürdige Melange aus Erleichterung und Überforderung. Welche Schritte gilt es jetzt zu gehen, was genau bedeutet es, der Lebensrealität endlich eine Erklärung geben zu können?

Wenn man mir sagt, ich sei verkopft, stimmt das. Ebenso wie es stimmt, dass ich sehr emotional bin. Es gibt einige, die mich beschrieben als „wenn du dabei bist, bist du 100% dabei, wenn nicht, dann eben deutlich mit von dir geäußerten 0% - es sei denn, man kann es dir schmackhaft machen; bei Liebe beobachtest du, aber solange du da bist, bist du zu 100% dabei“. 
Diese beiden Eigenschaften habe ich eine Zeit lang nicht zusammenbringen können und auf eine Art habe ich das erst so richtig kurz vor der 30 gelernt. Einen großen Teil meiner 20er habe ich in Therapie verbracht, um ein Symptom, eine Begleiterscheinung zu bearbeiten.

Es gibt so viele Eigenschaften in mir, die es im Nachgang des Ausfüllens verschiedener Dignostikbögen zu hinterfragen galt. Es gab immer wieder diese feine Linie zwischen „was bin ich“ und „was ist die Diagnose“. Darüber hinaus sperrige Begriffe. Primärer und sekundärer Krankheitsgewinn, generell die Begriffe Krankheit und Gesundheit, die schon immer mit mehr oder weniger fransigen Rändern versehen und Teil meiner Lebensthemen sind. Dazu kommt Leidensdruck, der objektiv messbar zu sein hat und der lange verschüttet lag unter Lagen aus Scham, in Therapie reparierten Leitsätzen, innerem Tüll und Überraschung.

Die erste existenzielle Krise kam als ich Ferdinand de Saussures Konzept der Semiotik kennenlernte, dass hinter grundlegenden Wörtern andere Bilder im Kopf liegen, dein Konzept eines Baumes nie zu hundert Prozent meines sein könne. Wie kann ich mich also je so ausdrücken, dass andere exakt wissen, was gemeint ist, mit den gleichen Bildern vor Augen? Damals war ich einundzwanzig und in mir brach auf der einen Seite etwas zusammen, auf der anderen kämpfte sich seit diesem Zeitpunkt etwas an dieser Feststellung ab. Die Entfremdung kickte so richtig: fast tausend Kilometer Luftlinie nach London, ein Gefälle der Gemüter und wie ich vor allem mir Entscheidungen übelnahm. Es wäre zu korrigieren: wie ich mir übelnahm, nach Deutschland, nach Dresden zurückgekehrt zu sein, auf Anraten, Druck, mit einem Gedanken, dass man eben sein Leben geradlinig leben muss.

Mittlerweile weiß ich es zum Glück besser, tatsächlich mehr als acht Jahre schon: es ist eine Bereicherung, dass Sprachbilder und Sprachkonzepte unterschiedlicher Personen nie zu hundert Prozent deckungsgleich sein können. Vielfalt, Schönheit unterschiedlicher Perspektiven - und seien sie nur um wenige Grad unterschiedlich oder die Augenlinie auf anderer Höhe - all das macht das Leben besonders liebenswert. Und Menschen mit Kurven in ihrem Werdegang können Augen auf andere Art öffnen und darauf verweisen, dass alles immer am Werden ist.

Ebenso ist mir seit einigen Jahren bewusst, wie viel Glück ich bei und trotz all dem hatte. Das betrifft auch die Menschen, die in mein Leben traten, von denen einige blieben, einige gingen; von allen konnte und durfte ich etwas über sie und mich und das Leben lernen, über meine Moralvorstellungen, Werte.
Gleichzeitig durfte ich lernen, in welchem Bereich ich vermeintlich konservativ bin: in meinem Sicherheitsgefühl. Von der Depression blieb übrig, immer so viel Geld haben zu wollen, dass ich für mich selbst sorgen kann, unabhängig zu sein, das Bedürfnis, eine Art Sicherheitsnetz zu haben. Die Erinnerung an Momente, in denen es prekär zuging, was zu unnötig mehr Stress geführt hat und das Gesundwerden verzögerte. Das bedeutet ebenso, dass ich etwas länger benötige, bis ich ins Ungewisse springe, allerdings hält es mich nicht davon ab überhaupt zu springen.
Wissen um Gegensätze in dem, was nötig ist und an dem ich mich durchaus stoße. Grundroutinen, teilweise strikter als für andere, benötigen, sie gleichzeitig als zu einschränkend ablehnen. Das mit dem Sicherheitsbedürfnis gehört dazu.

Muff Potter - Nottbeck City Limits / Parcels - IknowhowIfeel