
36
Ein Spätnachmittag, du bist in Begleitung deiner Mutter und Großmutter in der Gegend um das Familienhaus unterwegs. Ihr holt den Familienhund ab, der schwankt ein wenig, hatte zur Beruhigung etwas vom Hundesalon ins Leckerli gemischt bekommen, sonst hätte man ihm das Fell nicht scheren können. Ein schon immer zutiefst verängstigtes Tier, und aggressiv wenn verängstigt. Das kam alles durch Misshandlung der Vorbesitzer. Er beißt in jeden Staubsauger, hat Angst vor allen lauten Geräuschen, kann nicht gut mit anderen Hunden, ist ruhig um Mitglieder der Familie herum, legt sich über Jahre hinweg ruhig und um dich zu beruhigen an deine Füße, wenn du alleine leise vor dich hinweinst.
Er war noch jung als er zu euch kam. Aus irgendeinem Grund nanntet ihr den Hund Bobby, er bestand wirklich nur aus Fell. Als ihr ihn zu euch gebracht habt, kotzte er das gesamte Auto inklusive Familienmitglied voll. Die Züchter hatten ihn Andy genannt; wie kann man einen Hund Andy nennen dachtest du dir immer.
Der Hund kippt beim Markieren seines Gebiets immer wieder auf dem unbefestigten Weg um, ihr lacht, etwas hilflos. Ihr richtet ihn wieder auf und geht fast im Schneckentempo den leichten Hang zu eurem Haus hinauf. Wie passend, die Häuser liegen in der Form eines Schneckenhauses angeordnet in einem Neubaugebiet.
Es regnet, die Tropfen prasseln auf deinen Regenschirm, Bobby riecht nach Hundeshampoo, das du olfaktorisch kaum ertragen kannst. Dir ist schlecht. Du bist dreizehn Jahre alt und freust dich darauf, dass du nicht in der Schule sitzen musst und stattdessen gleich wieder das im gleichen Jahr erschienene Daft Punk Album hören kannst.
Du trittst durch die Haustür, hörst entfernt den Fernseher. Deine Mutter und du gehen ins Wohnzimmer, deine Schwester und dein Vater sitzen im Raum. Die Stimmung ist komisch. Ihr schaut alle auf den Bildschirm. Du siehst, wie ein Flugzeug ins WTC fliegt, einer der Türme brennt schon. Ein paar Minuten später eine Schaltung nach Arlington. Danach siehst du beim Kollaps zu. Es regnet weiter. Das Geräusch von Regen hat dich schon immer beruhigt, auch jetzt hörst du mehr auf dessen Prasseln auf die Überdachung der Terrasse. Du erinnerst nichts weiter von dem Tag außer dein ungläubiges Kopfschütteln.
Das alles war etwas, das du dir nicht hättest vorstellen können. Du erinnerst Gespräche Tage danach mit Mitschülern und Mitschülerinnen deiner Jahrgangsstufe, du erinnerst, wie du im Vorraum der Schule standest. Schulgebäude in H-Form, Durchgang, es riecht nach Herbst. Als würde etwas vor deinen Augen gären.
Ripple-Effekte. Das Banale überlagert in deiner Erinnerung Weltereignisse. Es kann sogar sein, dass deine Schwester gar nicht vor dem Fernseher saß und es nur dein Vater war.
Nichts ist wie es einmal war. Ab diesem Zeitpunkt wird in deiner Erinnerung Krieg live übertragen. Du erinnerst Nachtaufnahmen von den Attacken auf Baghdad.
2012 stehst du am WTC Memorial, du bist den Tag zuvor vierundzwanzig geworden und genießt die Stadt. Dieses merkwürdige Gefühl, diese Stadt mit Loch, der Kloß im Hals. Du bekommst auch da die Bilder von dem Spätnachmittag fast elf Jahre zuvor nicht zusammen mit dem Bild und Leben direkt vor deinen Augen.
Auch heute liebst du Regen, gehst am liebsten genau dann spazieren.
Dev & Scan: Foto Labor Service Görner, Dresden
No comments.