
29
Du sitzt auf einem vollgestellten Dachboden und starrst aus der Höhe der obersten Sprosse einer alten Leiter den abendlichen Augusthimmel an. Im Radio, das in der Ecke auf dem ovalen Esstisch aus hellem Holz, für den es seit Jahren keine Verwendung mehr gibt, steht, läuft Mensch von Herbert Grönemeyer. Ein paar Etagen tiefer riecht es nach Wasser, lief es ein paar Stunden zuvor noch in einem Strahl unter deinem Zimmer hindurch in einen anderen Raum. Radonfolie, denkst du dir auf einmal, ohne, dass sie damit so wirklich etwas zu tun hat.
Deine Großmutter feiert heute eigentlich ihren Geburtstag. Sie ist so alt wie die Queen, denkst du dir seit du eine Vorstellung von Jahrzehnten hast immer wieder. Normalerweise gibt es Kaffee den du nicht gern trinkst, weil er Landkaffee, von ihr Muckefuck genannt, ist, und Kuchen. Meist etwas selbstgemachtes oder irgendetwas mit Sahne, vielleicht sogar mit Erdbeeren aus dem Garten. Meist hast nicht du diese gepflückt. Nein, Erdbeeren waren es nicht, das wäre sonst die Zeit um deinen Tag, den Ende Mai.
Grönemeyer also. Tropfen, kein Strom, lieber. Das Wasser, wie es schon in deiner Schule im Keller stand, unter deinem Spind. Wie du nach Hause gekommen bist, erinnerst du nicht, irgendwann warst du einfach da, durch den Regen hindurch. Einfache Strecke, mit dem Bus, Überland, mindestens fünfundvierzig Minuten, meist eher eine Stunde. Auch erinnerst du dich nicht daran, was du getan hast. Du warst einfach. Hast du angepackt, hast du dein persönliches Chaos Wasser aufsaugen sehen, mindestens in der Vorstellung? Nein. Wobei: du weißt es nicht. Momentan ist richtig, momentan ist gut. Ah ja.
Der Nachbar von Gegenüber starrt dir fast direkt ins Gesicht, einen Vorhang gibt es nicht. Du sitzt weiter auf der obersten Sprosse, starrst nach draußen.
Dabei ist an sich nichts passiert, das denkst du. Ein Ausmaß erkennst du nicht. Trotzdem schoss das Wasser in großem Bogen und mit viel Geschwindigkeit den Asphalt entlang und auch durch deine Schuhe hindurch auf eure Ecke. Ihr wart nicht die einzigen, die komisch schauten. Ein Berg und eine Überflutung, angestautes Wasser. Deine Großmutter, die nur Omi, nicht Oma genannt werden wollte, spricht über die Gemäldegalerie Alte Meister. Du denkst an den Physikalischen Salon. Die Vasen sind dir leider herzlich egal. Du hast sie sowieso alle jedes Jahr im Sommer gesehen und sehen müssen. Plötzlich denken an die Stufen vom Schloss und den Fußweg von der Straßenbahn zur Fähre: zu oft gegangen, zu oft nicht wertgeschätzt.
Der absurde Gedanke an die Tage danach, deine Lehrer und Lehrerinnen werden später davon erzählen, wie sie von der Außenwelt abgeschnitten waren und das Wasser an ihren Häusern vorbeiziehen und in ihre Gärten und Geschosse fließen sahen. Du willst all das nicht erinnern, jahrelang. Keine Rückblicke, keine Familiengespräche über das, was da in diesem Sommer passiert war, was man im Fernsehen sah. Bei der alljährlichen Fahrradtour entlang der Elbe zeigt man dir noch das frühere Grundstück deiner Großtante, das in Stadt Wehlen auch komplett unter Wasser stand. Pirna, Wehlen, Rathen, wieder zurück nach Pirna. Man wird nicht über die Bilder von Weesenstein oder Dohna reden. Der Friedhof, den deine Großmutter regelmäßig besuchte, lag zum Glück relativ weit oben.
Jahre später wirst du, kurz vor Berlin, mit einer Exmatrikulationsbescheinigung in einem brauen DINA4-Umschlag in einer Straßenbahn sitzend über eine Hochwasser führende Elbe fahren, zurück in dein Zuhause, das ab 2011; Grönemeyer kriecht wieder deinen Rücken hoch. Wirbel für Wirbel steigt die Gänsehaut mit bis du dich nur noch schütteln kannst.
Dachboden, oberste Sprosse der Leiter, in die deine Hüfte immer gerade so hineingepasst hat nach der Pubertät. Das bleibt. Neuer Teppich, neue Tapete und ein paar Möbel später bist du wieder dort, wo du vor dem Tag warst, also Monate später, und du wirst nichts davon im Gedächtnis aufkochen lassen wollen. Dabei wart ihr nicht wirklich betroffen, eventuell waren es vor allem die Bilder, die du nicht mehr sehen wolltest. Und Mensch und dieses verdammte Eisbärenkostüm am Strand. Ich will nur dein Wort bleibt gelegentlich noch übrig, ebenso wie das Aufatmen deiner Großmutter wegen der Gemälde, der Kamelie und dem, was gut ging. Stufen am Schloss, seichtes Plätschern und die Sonne, die dir den Rücken durch deine Kleidung hindurch die Haut verbrennt. Wenigstens kein Regen, wie sehr du diesen sonst im Sommer auch liebst. Petrichor. Kein Schlamm.
No comments.