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Ein Fallbeispiel bist du, eine Variation, eine Variante eines Themas, das eine Art Mosaikstein zum Gesamtbild beitragen kann. Womöglich hilft es, genau das wieder in der Konzeption deiner Arbeiten umzusetzen. Theoretisch einschränkende, aber deine Umsetzungen und Kreativität fördernde Elemente.

Es gibt ein paar Dinge, auf die dich wenige hinweisen, solltest du dich auf die Reise begeben wollen; du wirst beginnen sie für dich zu sammeln. Du wirst die Summe an Geld hinterfragen, die du über die Jahre in "kreative" Ablagesysteme, Kalender, Produktivitäts-Hack-Bücher, Apps, die dir dein Leben und deinen Kopf klarer sortieren sollen, und Büromaterial investiert hast. Du wirst in Büchern - die du gern hast - Sätze lesen wie make time for what matters; du wirst mehr den Begriff Zeit als den der Bedeutung hinterfragen. Du wirst alte Sätze von dir lesen wie ich will leben, ich will nicht nur in dieser Schwebe sein, dieses Beinahe-Leben, brauche keinen Brandbeschleuniger. Nie habe ich etwas anderes gemacht, immer gebrannt, es hat selten jemand gesehen. Du wirst Sätze von Freunden im Ohr haben, Sätze, die dich beschreiben, und Sätze, die du über dich seit Jahren sagst. Du denkst daran zurück, wie du dir immer gewünscht hast, es wäre möglich eine Art Diktafon für Gedanken zu haben, denn deine schießen mindestens mit Lichtgeschwindigkeit durch deinen Kopf.
An Besuche in Buchhandlungen, Buchtempeln beinahe, wirst du dich erinnern, an das Durchblättern von Büchern deiner Lieblingsautorinnen und Lieblingsautoren. Aus einem Roman von Sibylle Berg zwei Seiten lesen und dann ganz dringend das Buch zurück ins Regal stellen: dein Notizbuch herausholen, unbedingt jetzt schreiben müssen, das Gefühl haben, eine Stimmung greifen zu können. Du wirst dich nur vereinzelt an Sätze erinnern die Berg schrieb, vielmehr bleibt die Stimmung der ersten beiden Seiten als Ansetzen und Drang loszulaufen in dir zurück. Das Gefühl ist leider so plötzlich weg, wie es gekommen ist - auch, wenn du weißt, wie du wieder zu diesem zurück findest. Bei der Diagnostik wirst du nach Szenarien befragt, du hörst dich sagen, dass du in jedem Raum deiner Wohnung mindestens eine Schreibmöglichkeit liegen hast, für den Fall der Fälle; du siehst die MFA schnell mitschreiben.

Es wird Momente geben, in denen du unfassbar wütend sein wirst, jetzt schon. Vor einer Diagnose. Wütend wirst du sein auf den Schwebezustand, in dem du dich unweigerlich befindest, darauf, dass dir diese Fragen niemand vorher gestellt hat. Stinksauer wirst du sein darauf, dass es im Zweifel schon wieder etwas ist, das du erklären musst, obwohl es etwas ist, das vieles von dir erklärt.
In anderen Momenten wiederum wirst du das Konzept von Krankheit und Gesundheit noch mehr hinterfragen als ohnehin schon. Du wirst auf der anderen Seite in Wellen das Bedürfnis haben zu lachen: das Gehirn ist dein Steckenpferd, dein Lieblingsthema, das, was du am liebsten zeichnest, das, was du schon immer am dringendsten verstehen wolltest. Das, über das du dich am meisten beliest und dich in seinen Facetten fasziniert. Die Ironie darin.
Mehrere Bücher liegen auf der leeren Seite deines Bettes (ein paar weitere stehen im Regal), manche schon angestrichen, alle noch nicht zu weit gelesen:
- Matthew Cobb - The Idea of the Brain: A History
- David Eagleman - Livewired: The Inside Story of the Ever-Changing Brain
- Gina Rippon - The Gendered Brain: The new neuroscience that shatters the myth of the female brain
- Mark Solms - The Hidden Spring: A Journey to the Source of Consciousness

Dann denkst du an J zurück und wie sie dir sagte manche Menschen haben einen unfassbar schönen Verstand. Und dann denkst du an das Zitat zurück, das du für deinen in der Bella Triste veröffentlichten Bildteil gewählt hast, es ist eines von Anton Corbijn: your handicap is your biggest asset. Because that's what really determines your style - or what is called style - in the end. Es wird dir den Haltegriff geben, den du in manchen Momenten dringend brauchst: nichts war und ist umsonst.
Auch wenn es dich jetzt schon aufregt, hast du das Gefühl, bei einer Diagnose wieder gegen ein Stigma arbeiten zu müssen. Schreibend, illustrierend, gestaltend, animierend, fotografierend: was auch immer, wie auch immer. Wie genau, weißt du noch nicht. Es regt dich auf, weil es sich so anfühlt, als wärst du Don Quijote, der gegen Windmühlen kämpft, nur, dass diese hierbei in den Köpfen nicht betroffener Menschen stehen.

Es werden Fragen bei dir auftauchen, die in die Meta-Ebene gehen. Wie viel und wie sehr bist du dein Gehirn? Was bist du und was sind am Ende (gestörte) neurobiologische Prozesse? Du wirst keine zufriedenstellende Antwort darauf finden.

Was für ein immer noch irritierend klares aber unwirkliches Konzept das Altern und die Relation von dir selbst zum Vergangenen ist. Dreiunddreißig nennt man das also mittlerweile. Du sichtest nicht nur im Kontext der Diagnostik deine früheren Texte und Fotos. Ein Anschreiben gegen die Zeit, ein Festhalten von Eindrücken, Feststellungen und den kleinen Wetteränderungen in den Menschen um dich herum. Wie du es früher gleichgesetzt hast mit einem Ausbluten, wie du nicht mehr leiden wolltest nur um schreiben zu können. Wie du unveröffentlicht - ohne ISBN - bliebst, nur, weil du dich lieber fragmentiert ausdrückst und deswegen nie wirklich ein Leben-Wollen vom Schreiben forciert hast. Wie du jetzt ein du ansprichst, nur, weil du Lesende dazu bringen möchtest, andere Perspektiven mindestens in Betracht ziehen zu können.
Wie dir auffällt, dass du dich Berlin über drei Jahre lang genähert hast wie eine Person auf Durchreise, egal ob beim Schreiben oder Fotografieren. Die Dinge wieder wie zum ersten Mal sehen können, eventuell wird das das größte Geschenk der Pandemie.

Radiohead - High and Dry // Jóhann Jóhannsson - A Sparrow Alighted upon Our Shoulder

Dev & Scan: Foto Labor Service Görner, Dresden
Film: Fuji Pro400H