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Ich schaue aus dem Fenster wie den meisten Teil des Gesprächs, der Himmel ist so blau. Ich sage ihm, dass ich lange auf den Termin gewartet habe. Fast fünf Monate. Dass es sich wie ein riesiger Berg oder eine zähe undefinierte Masse Zeit angefühlt hat zum Zeitpunkt des Buchens. Wie für immer und weit entfernt, aber dass auch das nicht fassbar war als so und so lange. Dass ich aber sowieso nicht sagen kann, ob das eine lange Zeit ist, jetzt erst recht nicht, wo ich in dem Termin sitze. Es hätten auch fünf Tage sein können. Wurden es eben fünf Monate. Er lacht kurz. Ich schaue den Vögeln zu, die hinter seinem Kopf wie wild über der Kreuzung vor der Praxis ihre Runden drehen.
Vor dem Termin hatte ich große Angst. Nicht vor dem Inhalt an sich, nicht wegen dem, wegen dem ich mich vorstelle, sondern wegen der Umstände. Nicht wegen der Umstände der Zeit, wegen früherer Erlebnisse. Wir schauen uns das gemeinsam an, er sieht die Indikation eine Diagnostik anzustoßen. Fast weinend und unfassbar erleichtert verlasse ich die Praxis. Es ist viel zu früh am Morgen und ich bin übermüdet, weil ich Nachts erst spät einschlafen kann. Schließlich ist es dann ruhig und es gibt weniger Ablenkung und die Ideen kommen.
Ich gehe nach Hause mit sehr viel Informationsmaterial zu ADHS und einem Fragebogen, einem weiteren Wochen entfernten Termin zur Diagnostik und einem neuen Grund - Laborwerte - zu meiner Hausärztin zu gehen.
Also geht die Reise los.
Sollte man darüber schreiben - in ich-Form - oder es sein lassen? Die Frage schwebt im Raum seit Wochen. Vor neun Jahren habe ich über meine Depression, die Diagnosestellung und die darauf folgende Therapie geschrieben. Die meisten meiner Freunde hatten bis zu dem Zeitpunkt, wo ich Hilfe brauchte, keinen Kontakt mit psychischen Erkrankungen. Ich bei anderen Menschen auch nicht bis fast gar nicht. Momente, vor dem Abitur und danach, wo es mir nicht gut ging, wo ich hätte schon einen Arzt oder eine Ärztin konsultieren sollen, verstrichen, ohne, dass mich jemand beiseite nahm und darauf hinwies, weder Familie noch Freunde. Ich kann es niemandem vorwerfen und konnte es damals auch nicht. Ab 2011 passierte das Hinweisen - mit Menschen, die eben schon mit psychischen Erkrankungen in Kontakt kamen.
Das Schreiben darüber war Teil meines Verarbeitens, öffnete Verständnis und Austausch mit einigen, die wegen der Erkrankung den Zugang zu mir verloren hatten. Manchen gab es einen Haltegriff, so wie ich ihn mir damals gewünscht hätte. Groß aufgezogen habe ich das nie, wollte ich auch nicht. Das Label "depressiv", das zu oft disrespektierlich und stigmatisierend von nicht Betroffenen verwendet wurde und heute teilweise noch wird, hat mich angewidert. Ich hatte schlichtweg keinen Bock auf Stigma. Genauso wenig wie ich es heute einsehe, für andere Zwecke meine frühere Erkrankung instrumentalisiert zu sehen von Menschen, die sich sonst im Stil von "sei halt einfach glücklich" äußern. Die ihre Reichweite vorher nie genutzt haben für mehr Kassensitze für psychotherapeutische Behandlungen um die bei psychischen Erkrankungen gefährliche viel zu lange Wartezeit zu reduzieren (je länger man unbehandelt bleibt, desto schwerwiegender die Ausmaße des dann zu behandelnden). Die sich nicht dafür einsetzen, dass angehende Therapeuten und Therapeutinnen auch während ihrer Ausbildung und psychotherapeutischen Arbeit ein angemessenes Gehalt erhalten.
Auch jetzt habe ich keine Laune auf Label. Oder die Unterstellung, ich würde mich damit profilieren wollen. Das habe ich schon vor neun Jahren nicht und will ich jetzt erst recht nicht. Ich will kein „es ist schon wieder etwas“ oder überhaupt ein „schon wieder“ - ich will etwas beschreiben, von dem ich viel zu wenig Ahnung hatte, vor allem nicht insofern, was zu tun ist. Wo finde ich zuverlässige Informationen, gibt es Unterschiede bei der Manifestation zwischen Mann und Frau, an wen kann ich mich wenden, warum ist das alles so mit Nebel versehen? Und was resultiert daraus? Wo hat das angefangen?
Vor ein paar Monaten sprach ich mit einer Bekannten. Wir sprachen über die Psyche allgemein, dann über die allgemeine Stimmungslage, dann über ein Früher, dann über Diagnosen. Depression und soziale Phobie, Panikattacken unter Menschen (früher häufig, heute kaum) und meine von anderen als "bist ja nur kreativ" verklärten Schwierigkeiten. Dann sprachen wir über die Schwierigkeiten, über die ich mich oft geschämt habe zu sprechen. Meine Bekannte fragte mich dann, ob ADHS bei mir mal als Differentialdiagnose in Betracht kam, viele haben oft auch zusätzlich Erkrankungen, unter Anderem diese, die ich hatte. Ich lachte und meinte "ich und ADHS, ach was, ich war doch nur depressiv". Sie wies darauf hin, aus einer Familie voller ADHSler zu kommen, sie als einzige ohne Diagnose, dass ich ja nicht hyperaktiv sein müsse, vielleicht sei es ADS. Ich lachte nicht mehr, wehrte es aber eher ab, ich kannte nur ADHS, nicht ADS, aus eigenem Erleben. Sie legte mir nah, mich mal zu belesen. Wer mich kennt, weiß: sag mir das zu wissenschaftlichen Themen und ich lese.
Mein früheres verlegenes Lachen blieb mir relativ schnell im Hals stecken - spätestens bei der Adult ADHD Self-Report Scale der WHO. Dann lesen bei Selbsthilfenetzwerken, Fachgesellschaften, noch häufiger das frühere Lachen im Hals stecken haben, ich lese mich dort in Beschreibungen. Also abklären lassen. Psychiatrische Praxen, die sich auch auf ADHS bei Erwachsenen spezialisiert haben, zu finden, neue Patienten und Patientinnen aufnehmen und nicht zu lange Wartezeiten haben, gestaltet sich selbst in Berlin als unfassbar schwierig. Wenn, dann bin ich bisher so weit gekommen nicht wegen sondern trotzdem. Was auch immer herauskommt.
Also sitze ich eben Monate später im Sprechzimmer und erzähle und schaue dabei aus dem Fenster. Und nun sitze ich vor dem Fragebogen und finde mich wieder. Ich bin gespannt, wie die Reise weitergeht. Angst ist da nicht mehr.
Dev & Scan: Foto Labor Service Görner, Dresden
Film: Fuji Pro400H
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