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Du liest dich an die Leben mittlerweile verstorbener Musiker heran, sowie an ihre 100 Lieblingsbücher: unter Anderem mit deinen persönlichen Lieblingen, Christa Wolfs Nachdenken über Christa T. und Silence: Lectures and Writings von John Cage. Sie selbst und Weggefährt:innen erzählen über sie, du liest über ihre Sexsucht, nickst und denkst so what; Frau S. erzählst du von diesem beschriebenen Berlin-Gefühl, das du selbst von dieser Stadt und in der Intensität von deiner Zeit in London kennst. I never felt freer than I did in Berlin. Romantisiert, idealisiert, wie alles Gute im Rückblick. Frau S. sagt, du könntest ihn vielleicht als Vorbild sehen, du nickst wieder und sagst bestimmt, denkst dir dabei in Teilen. Sich mit sich versöhnen, immer wieder von Neuem. Irgendwann glaubst du selbst an das Alter, das sich aus deinem Reisepass lesen lässt, irgendwann, noch nicht jetzt. Auch, wenn deine Rastlosigkeit nur selten Ruhe weichen will.
Wenigstens ist da der alte Postcode über deinem linken Handgelenk.
Auf dem Eis des Landwehrkanals, unter der Brücke, die du vor Witterungsbedingungen fast selbst in Richtung Kanal geschlittert bist, steht ein komplett in schwarz gekleideter Mann. Ein anderer schaut vom Fußweg her die auf die Befestigungsmauer montierte gelb lackierte Leiter hinab auf ihn. Der auf dem zugefrorenen Kanal Stehende kickt seine rechte Hacke minutenlang wiederholt mit voller Kraft ins Eis. Als würde er von einem sicheren Punkt aus nur testen, wie dick die Oberfläche ist, ob sie ihn auch wirklich trägt und ob sie ihn aushält. Der Mann, der herunterschaut, und du wechseln Blicke. In der Nähe ein Rettungsring, aus der Ferne kannst du das Martinshorn hören. Es passiert nichts, der Wind geht, die Fußgängerampel springt auf grün.
Fünfzehn Minuten später kommst du wieder an dem Mann auf dem Eis vorbei, er schleudert noch immer seine Hacke in den Untergrund, nur steht er dieses Mal mitten auf dem Kanal. Nichts passiert, kein wahrnehmbares lautes Knacken. Du gehst weiter. Der Mann auf dem Eis lacht laut vor sich hin.
Sehnsucht wie ein plötzlicher, unvermittelter Regenschauer im Hochsommer, nur, dass es dieses Mal selbst das Glatteis schmelzen lässt. Nie wieder als selbstverständlich annehmen, was dich umgibt. Nie wieder vergessen, wie wichtig ist, was dich umgibt. Wenn du dich wieder so bewegen kannst wie vor zwei Jahren, wenn du reisen darfst, wann du willst und ohne die jetzigen momentanen Einschränkungen, wenn du dem Leben wieder dabei zuhören darfst, wie es vor sich hinrauscht. Das Besondere in Allem sehen können, erneut das Sehen und Hören lernen. Aktiv sehen, aktiv hören, über Tinnitus und deinen Atem hinweg.
Vielleicht muss man auch erst lernen, gesehen und gespiegelt zu werden, sagt Frau S., ja, vielleicht ist es wirklich auch das. An der Wand vor dir hängen Zitate, die einen erinnern dich, die anderen spenden Trost. Auch wenn so manche nicht vor sich und von sich selbst wegkönnen, es ist alles gut. Du schaust auf das Foto deiner Tante I. und auf die sechs Jahre alte Todesanzeige, die in den Bilderrahmen geklemmt ist. Bodensee, Föhn und die allsommerlich wieder auftauchenden und verschwindenden Berge im Süden. Der Geruch von Wald zum Geräusch der sich auf Kieselsteinen brechenden Wellen und sie, wie sie den aufkommenden Sturm im Wasser sieht. Zum Erinnern gehört das Vergessen, und manche Erinnerungen machen wir mit dem Erinnern größer als sie waren. Oh, all die Orte, an denen du bist und in denen du größer wirst, all die Orte, an und in denen du kleiner geworden bist. Die Frau, die dir beigebracht hat, wie wichtig es ist, ohne Vorbehalte liebevoll und gebend sein zu können, lächelt beruhigend und mit geschlossenen Augen in dein Heute. Ein Erinnern und Vergessen wie Kein Ort. Nirgends von Christa Wolf. Ach Christa.
Und dann verbrennt dir das Rotkraut in der Mikrowelle. Möglicherweise hast du aber auch nur an Kirchenmodi und die Arteria inferior posterior cerebelli gedacht und mal wieder die Zeit vergessen.
Paul McCartney - Every Night // Iggy Pop - Loves Missing
Dev & Scan: Foto Labor Service Görner, Dresden
Film: Fuji Pro400H
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