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Ein Blick zurück.
Es ist Ende November, du sitzt im Wartezimmer und brichst einfach in Tränen aus, weil du zwei Menschen sich lachend unterhaltend durch den Flur laufen hörst. Du sitzt ein wenig später vor deinem Hausarzt, der dich erstmal weinen lässt - deine Freunde wissen, wie sehr du es hasst, dies vor Anderen zu tun und wie sehr du gegen Überwältigungen dieser Art ankämpfst. Du kennst das von vor Jahren, du weißt, dass das eine manifeste Anpassungsstörung ist. Es gibt Unterschiede dazwischen und einer Depression, kennst sie aus eigenem Erleben und Eintauchen. Nach kurzer Zeit wechselst du aus dem Gefühl in die Ratio, du magst dich nicht ins Ohnmächtige, nicht Steuerbare hineinsteigern, das für dich diese Störung ist. Eine Art Überlaufbecken der Psyche. Als hättest du einen Schalter umgelegt auf „gefasst“, wie du es auch tust, wenn du über Traumata sprichst. 
Dein Arzt zeigt dir, dass er bereit ist, alle Geschütze aufzufahren, sobald du „los“ sagst. Du sagst nicht „los“. Du wirst trotzdem komplett herausgenommen aus allem. 
Das ist ebenfalls wie damals, mit dem Unterschied, dass du 2020 nicht in Tränen ausbrichst, wenn die U-Bahn-Musiker:innen in den Waggons stehen: es gibt schlichtweg niemanden, der singt und du nutzt kaum noch den ÖPNV. 2014 war dagegen alles voller Menschen, da konntest du dich nicht wehren, und es war Sommer und Emma war tot, blieb tot, egal, wie sehr du dich auch gegen die Trauer und das weitergehende Leben gesträubt hattest.

Arianne - KOMM, SUSSER TOD (M-10 Director's Edit Version)

Eine Woche später sitzt du wieder in der Praxis, deine Ärztin nickt, sie fragt mit sehr viel Feingefühl nach, auf deiner Akte Vermerke deiner früheren Erkrankungen. Du brauchst noch etwas, aber du fasst dich wieder, schnell, stehst sowieso auf eigenen Beinen, du hast schon härteres überstanden. In sechs Jahren kann man viel in sich finden und verarbeiten. 
Es geht dir jetzt wieder sehr gut, du fühlst dich wie ein Stehaufmensch. Trotz momentan eigentlich gefühlsmäßig Unfassbarem, manchen deutlich stärker Zusetzendem. Du siehst dabei zu, wie Andere deine frühere Erkrankung instrumentalisieren um wichtige wissenschaftliche und auf Evidenz basierende Debatten aufzuweichen. Du kannst dich jetzt ebenso wenig dagegen wehren wie früher so wirklich gegen Stigmata, gesellschaftliche Ausgrenzung und totale Indifferenz wegen der gleichen Erkrankung.
Jahrhundertereignisse, die wie Vergrößerungsgläser und Brandbeschleuniger in einem wirken. Unter Anderem kommt die sogenannte Jahrhundertflut, manche nannten sie sogar Jahrtausendflut, die sich durch deinen Geburtsort schwemmte, ins Gedächtnis. Irgendwie erinnerst du zu viele Jahrhundertereignisse in diesem noch sehr jungen Jahrhundert.

Bat For Lashes - Horse and I // The White Stripes - Blue Orchid

Im Innenhof erlebst du die Auswirkungen einer Kokainpsychose bei einem Fremden, die hellen und teilweise abblätternden Anstriche der Häuser leuchten in rhythmischen Abständen hellblau auf. Es hätten auch Blitze sein können, so einschneidend und laut die Schreie dazu. Be well, stranger, denkst du dir, wie jedes Mal beim Sehen eines Rettungswagens oder NEFs mit Blaulicht.

bôa - Get There // Soft Cell - Tainted Love

Dev & Scan: Foto Labor Service Görner, Dresden
(2007 abgelaufener gecrosster Fujichrome Provia 400F RHP III)