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Plattentektonik III

Als wäre alles ein Fiebertraum gewesen. Als hätte es die letzten Wochen, Monate nicht gegeben. Ein "Sense of Urgency," wie er sonst nur zu Jahrestagen durch die Gegend schleicht. Ich habe es mir so eingerichtet, dass ich immer wieder eine kleine Stelle in mir neu entdecke. Da werden die Fensterbretter freigeräumt, der Staub unterm Bett weggesaugt, da wühle ich mich durch alte Abzüge, besprühe meine Pflanzen. Eine Art Ritual. Zehn Minuten Yoga morgens im Bad und trotzdem bekomme ich den Druckschmerz unter dem einen Schulterblatt nicht mehr weg.

Mitte Mai lande ich auf einmal und unvorbereitet im Corona-Wartezimmer meiner Hausarztpraxis. Das Zimmer, in dem ich warten soll, hat mich selbst früher zum Arztgespräch begrüßt, mein Körper erinnert sich an die Hände, die inmitten von Koliken durch meine Flanke getastet haben. Unklarer Bauch als Lebensmotto. Jetzt höre ich so halb die Gespräche aus dem Nachbarraum; es erschrickt sich der Mann vor mir, der just am Empfang direkt neben mir stand.
Dann raschelt es ein Zimmer weiter: ich höre, wie sich der Arzt seine Schutzkleidung überzieht, Handschuhe überstreift, wie die Gummis, die die FFP3-Maske an seinem Gesicht halten sollen, gegen seinen Hinterkopf knallen. Das Geräusch von Schiebetüren, vor mir steht eine weiße Gestalt, so müssen doch auch Lackierer aussehen, denke ich mir. Wir setzen uns, ich versuche durch Maske und ohne Stimme zu schildern, was zu schildern geht. Vorsorge, aha. Alles aus meiner Krankenakte seit 2013 strahlt uns vom Monitor aus an. Er sieht den Vermerk zu meiner Depressionserkrankung, fragt, ob alles noch aktuell sei. Seit 2017 bin ich gesund und brauche keine Behandlung mehr. Ich huste, schildere die Symptome meines Infekts und wie das Fieber langsam sinkt. Er fragt, wie ich das wegbekommen habe. Mit Ibuprofen, sage ich, und Wadenwickeln. Die Depression meinte ich, erwidert er. Ich lache kurz, entgegne dann Therapie, Therapie, Therapie, Selbstkonfrontation, an sich arbeiten. Er finde das schön, murmelt er so leise, dass er es nochmal halb schreiend wiederholen muss, damit ich es richtig hören kann.
Die Probe nimmt er tief aus meinem Rachen. Dinge tief im Rachen kann ich nicht leiden - ich würge mir das Lachen also ebenso hoch wie die Ernüchterung über das Biohazard-Zeichen auf dem Probenbeutel. Gedanken an 28 Days Later.
Es ist Freitag, ich soll in Selbstisolation bis das Testergebnis da ist. Geht man jetzt noch einkaufen? Geht man noch irgendwo hin? Kann man die Briefmarke anlecken für den Briefumschlag für die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung? Kann ich Pakete annehmen? Geht der Lieferdienst? Wie mache ich diesem einen Paketdienst deutlich, dass ich dort wohne, wo ich wohne, seit sechseinhalb Jahren am Stück? Ich finde die Kilopakete Nudeln wieder, die ich von meiner Familie zu Weihnachten geschickt bekam, sehe all das Porridge, das Tiefkühlgemüseimperium, denke Wohngemeinschaft und schließe seufzend die Tür zu meinem Zimmer hinter mir. Selbstisolation mit Sagrotan als ständigem Begleiter.
Montag der Anruf: negativ. Ich freue mich an meinem Geburtstag vor die Tür treten zu können, ich werde sowieso nicht feiern. Ohne Familia ist es nur mein 11688. Tag auf der Erde, nicht mehr. (Ich werde nicht vor die Tür treten, dafür aber eine Benjamin Blümchen Torte essen, wie es zum Zweiunddreißigsten angemessen ist.)

LCD Soundsystem - Dance Yrself Clean

Freunde, die sagen, meine Umarmungen seien qualitativ hochwertig und würden ihnen fehlen. Die erste, die ich nach zwei Monaten bekomme, überwältigt mehr als ich dachte. Seit meiner früheren Bekanntschaft mit Depression weiß ich, dass Menschen Berührungen versuchen mit Wärme auszugleichen und mehr baden. Ich reihe mich bei der Gruppe ein, die, egal bei welcher Außentemperatur, selbst versucht Wärme durch heißeres kurzes Duschen zu regulieren (Studie hier), ähnlich wie Lichtwecker beim morgendlichen Aufwachen helfen oder wie sehr es hilft, von Pflanzen umgeben zu sein. Vielleicht entdecke ich meinen Nachnamen neu, den, den ich, seit ich mich erinnern kann, perspektivisch und langfristig loswerden wollte. Generell entdecke ich einiges über mich, lerne, dass ein Leben, das für andere verlockend klingt, eines, das traditioneller gezeichnet ist, für mich keines ist, das ich leben kann und will. Dieses Traditionelle sieht man nicht unbedingt umrandet mit rotem Stift und Grenzen und klarem Auftrag.
Kurz denke ich an den Mann zurück, der genau das wollte und als ich dem widersprach, den Wunsch äußerte, mir beide Handgelenke zu brechen. Ich bin froh, gegangen zu sein.

Morgens ist die Stimmung in der Wohnung am wenigsten greifbar, die Mauersegler fehlen und die Geräusche der Stadt über die Geräusche der U-Bahn hinaus. Es legt sich in die Kurve, hinter dem Haus sanieren sie eine alte Garage, hinter dieser war mal ein öffentliches Gebäude. Kräne umkreisen das, was jetzt Freifläche ist als wären es Krähen. Um die Ecke stehen die Raucher dicht an dicht um windgeschützt zu sein. Irgendjemand scherzt, dass das eher zwanzig Zentimeter als zwei Meter seien, ich drehe die Musik lauter, damit ich ihr betretenes Lachen nicht hören muss.
Die letzten Wochen verschwimmen zu einem großen Klumpen, ähnlich zusammengeknüllten Taschentüchern, die man nach der Wäsche in den Hosentaschen findet. Montag ist, wenn die Elster im Innenhof dir die frisch gefangenen Mäuse auf den Kopf fallen lässt.
Den Tritt wieder finden, die überreizte Lunge schonen, flacher atmen. Ich bin eine noch schlechtere Texterin als vorher schon geworden, die Benachrichtigungen sind zum größten Teil ausgeschaltet. Ich vergesse oft mich zurückzumelden. Als würde ich endlich dazu kommen, das Vergangene zu verarbeiten, als würde etwas in mir gären, als würde man wie bei neu gekauften Farbeimern erst die oben lose schwimmenden Lösungsmittel wieder mit der eigentlichen Farbe vermischen müssen. Das wird irgendwann wieder, im Zweifel braucht es einfach Zeit. Bisher bin ich immer wieder da gewesen.

Joy Division - Transmission

Stille als lautestes Geräusch. Im Innenhof plätschert der Regen vor sich hin, eine Antwort in den Blättern, keine wirkliche Sprache. In Worte zu schieben versuchen, was noch keine Beschreibung gefunden hat. Ich lege eine Liste an. Das Gefühl, als würde man ganz dringend beginnen wollen zu rennen. Als würde der Schnee unter den Schuhen nicht fürs Schlittenfahren reichen. Als würde gleich etwas wundervolles geschehen. Als würdest du gerade alles zum allerersten Mal sehen. Als würdest du Bruchstellen in allem erahnen können. Das Gefühl, dass ein Kapitel beginnt und du gleichzeitig vergessen hast, beim Kassettendeck auf Record zu drücken. Als würde dir etwas nicht greifbares durch die Finger rinnen.

Acht Minuten und sechsundvierzig Sekunden. Das Büchlein über das Böse neben meinem Kopfende.

Mutmaßungen über. Mutmaßungen zwischen den Zeilen. Aber was soll man auch erwarten: nicht alle Monate sind wie üppige Flügeltüren mit frisch geputzter Verglasung, durch die das Licht fällt, wie es das in Filmen von Roger Deakins macht.

Recomposed by Max Richter: Vivaldi, The Four Seasons - Summer 2

Wir werden einander verzeihen müssen - ich denke daran, wie manches sich so anfühlt, als wären wir alle viel zu lange im Urlaub gewesen. Oder ein Orkan hätte uns überrollt. Oder irgendetwas anderes greifbareres hätte hinter der Aussage von Spahn gesteckt.
Da ist der sommerliche Wolkenbruch, der so herrlich neu wirkt, als hätte ich wirklich gerade alles zum allerersten Mal gesehen. Normalerweise würde ich jetzt in den Park schaukeln gehen, aber sie haben die Sitzflächen von den Schaukeln entfernt. Nachdenken über das Wort normal. Ich gehe meine Notizen durch, frage mich, wie oft sich dort dieser Ausdruck findet (momentan finde ich ihn unerträglich). Stattdessen finde ich lose Texte ohne Datum, nur mit Zeit.

02:01
Schaue mir Pflanzenvideos an. Für alles gibt es eine Nische. Mir fehlt Linguistik. 

04:07
Flüsse, die im Hochwasser immer wieder zu ihrem alten Flussbett finden.

19:57
Ich sortiere alle Lesezeichen neu, die sich über die Jahre in meinem Browser angesammelt haben und ich seit 2008 mit mir mitschleppe. Mir fehlt meine alte Universitätsbibliothek und wie angenehm ich zwischen den Mediävistik-Regalen schlafen konnte.

02:47
Der Spam Ordner meiner Email ist gefüllt mit Angeboten für OP-Masken. Von aus Versehen gefundenen Millionen von Dollars aus Nachlässen auf irgendwelchen inexistenten Konten, die man mir großzügigerweise hinterlassen wollte, über Erpressungen wegen und mit Pornos und Malware zu unseriösen möglichen Großbestellungen von PPE. What a world. Irgendein Heinz-Christoph schickt mir immer einen Newsletter für Türzargen zu.

13:57
Sich zu jeder Jahreszeit neu daran gewöhnen, wie Fremde starren.

01:32
„Da wussten wir nämlich noch nicht, dass die Scheiße den Ventilator trifft.“ (Wahrscheinlich ein Zitat aus einem der Podcasts, die ich gelegentlich zum Einschlafen höre, wenn ich nicht zur Ruhe komme. Seit Domian beruhigen mich Stimmen im Hintergrund.)

Marie Madeleine - Swimming Pool

Weniger schreiben, aber mehr davon. Skizzenbücher voll.
Ich sitze auf dem Sessel in der Küche, dem am Fenster, dem mit den Heizungsrohren im Rücken, schaue den Flur entlang. Vor ein paar Tagen habe ich das erste Mal alleine meinen Vorhang abgenommen. Höhenangst und viel zu hohe Decken. Das Licht also am Morgen. Ruhe, in mir drin. Viel davon, da kriecht doch eben alles in den letzten Extrazellularraum. Bald wird alles davon ein Ort für mich sein. Endlich ein Ort, von dem ich erzählen will, mein Ort zum Ankommen, zum Anfangen. Ich kann nicht aufhören mich zu freuen.

Maribou State - Beginner's Luck

Lektüre:

Eddo-Lodge, Reni. Why I’m No Longer Talking to White People About Race. Bloomsbury Publishing, 2019, doi:9781635572957.
Koolman, Jan, and Klaus-Heinrich Röhm. Taschenatlas Biochemie Des Menschen. 5th ed., Georg Thieme Verlag, 2019, doi:9783132417403.
McCulloch, Gretchen. Because Internet. Understanding the New Rules of Language. Riverhead Books, 2020, doi:9780593189566.
Swanson, Larry W. The Beautiful Brain. The Drawings of Santiago Ramón y Cajal. ABRAMS, 2017, doi:9781419722271.