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Plattentektonik I

Dies ist, dies wird, eine Erzählung in Etappen über ein paar Wochen im Jahr 2020, eines, das sich jetzt schon so anfühlt, als wäre seit Neujahr ein Jahrzehnt vergangen. Diese Worte werden vermutlich wachsen, je mehr Abstand alle von dieser Zeit gewinnen. Die Frage ist nur, wann genau ein Danach beginnt. So richtig.
In einer kleinen Ecke in mir liegen Sachen bereit, die schon länger darauf warten ans Licht zu treten. Der Wunsch, das du abzulegen und die dadurch sehr verwischten Aggregatzustände wieder klarer zu machen. Ein du nicht mehr als hybrides Sammelbecken für meine Erlebnisse, Fragen an Andere und Beobachtungen von Menschen. Schnipsel, Schatten, ganz viel Licht und ich, wie ich interpretiere.

Das hier ist das, was ich erzählen kann. Das, was ich sehe und mir passiert. Alles, was dir geschieht oder zustößt, gehört dir, sagte mal jemand, aber manches ist nicht Teil einer Geschichte, über die ich sprechen sollte. Es ist kein Erlebtes aus erster Hand, ich bin nicht darauf oder dagegen gestoßen wie ein Queue beim Billard auf den Spielball, habe dessen Ausmaße nicht gefühlt, habe mich nicht durch dessen Melancholie oder Wut oder Liebe oder Glückseligkeit gelebt. Schlichtweg: es gibt Dinge, die sind, aber sie sind und werden nicht meins.

M83 - Lower Your Eyelids To Die With The Sun

Meine erste Liebe war die Prosa höre ich mich sagen und komme nicht umhin zu lachen. Manchmaltage nannten die einen es, wenn ich meine Texte vorgelesen habe, die anderen erinnerten mich daran, nicht so schnell zu sprechen. Mitte März gerinnt mir mein in den Zwanzigern anerlebter, erlernter Tatendrang durch die Finger, will nicht greifen, kann nicht landen, Timing ist ein Schimpfwort. Wir haben alle unsere verschiedenen Lebenstempi.
Sich darauf besinnen, was mir immer Ventil und Decke zugleich war. Muss ich mich dafür noch ausbluten, muss ich mein Herz aus dem Brustkorb wüten so wie früher, damit ich künstlerisch tätig sein kann, muss ich überhaupt?

Verschiedene Zeitleisten, es könnten fast Parallelen sein. Ich höre und lese meinen Freunden und Freundinnen in Großbritannien und in Deutschland dabei zu, wie sie Angst um ihre Gesundheit haben, ohne das Wort Angst zu verwenden. Sie erzählen von ihren Alltagen in Krankenhäusern und von noch viel zu vollen Pubs in London an denen sie auf dem Nachhauseweg vorbeilaufen, während in ihren Kliniken PatientInnen sterben.

Säkert! - Fredrik

Einer nicht kleinen Zahl an Menschen sehe ich aus der Ferne dabei zu, wie sie täglich viel Alkohol trinken. Langeweile, Abendritual, einfach so. Ich frage mich, ab wann man verpflichtet ist, mit Nachfragen einzuschreiten.

Es irritiert, wie schnell der Körper vergisst. Wie kalt es war, wie sich Stimmen anhören, wie es sich anfühlt, unter vielen Menschen zu sein. I Want It That Way von den Backstreet Boys als Social Distancing Live Version und auf einmal tanze ich stumm heulend und davon überrascht in dem Bad, dessen Wände ich gerade ganz dringend streichen möchte. Bisher war das Lied für mich eines, das auf Brexit passt wie der Rest der absurden Abwicklung. Was gäbe ich für eine Umarmung, die mir etwas bedeutet.

"When I want something, it gets physical."
Kraków Loves Adana - Young Again

Ich denke zwei Monate zurück. Volle Bars, irgendwo in Mitte und Neukölln wabert Licht schummrig durch Fensterscheiben auf den nächtlichen Gehweg. Aus einem Café an der Friedrichstraße strahlt nun it was all a dream in Neonröhrenform in eine fast komplett verlassene Seitengasse. Eine Art Sonntagmorgen, noch bevor die Bäcker öffnen - so ist es gerade in meiner Version Berlin. Eerie als das einzige Wort, das in den Kopf kommt und langanhaltend verbleibt.

San Cisco - The Distance

Seit ich mir angewöhnt habe, ohne Kopfhörer auf meinen täglichen Spaziergang zu gehen, fallen mir mehr als ohnehin schon die kleinsten Dinge auf. Im kleinen vernachlässigten Park der wohl die Abgase der B96 zu einem Teil kompensieren soll, sitzen vereinzelt Menschen mit ihren Kindern auf den Parkbänken, Eichhörnchen laufen die Bäume hoch. Zwei Krähen streiten sich um ein Stück Pizza, eine von ihnen starrt mich an, fast als würde sie sich ertappt und verurteilt fühlen und mich dabei ertappen und verurteilen, weil ich sie in einem delikaten Moment anschaue.
Hier und da finden sich Leute zusammen, auf Entfernung, an Regeln haltend, hier und da ist es, als würde ich Slalom laufen; einzelne Sprachfetzen an meinem Ohr, fast ausschließlich das gleiche Thema. Währenddessen sind leere Straßen vor mir, auf die ich mich legen könnte, ohne von einem Auto gestört zu werden.

Auf dem Rückweg meines täglichen Spaziergangs hole ich etwas ab und flute in den großen Park am Ende meiner Straße. Sie haben die Trampoline abgesperrt, mittlerweile auch die asphaltierte Fläche daneben über die gelegentlich in normalen Wochen eine Bulldogge auf einem Skateboard rollt und Mengen anzieht, die sie filmen. Nichts ist hier leer. Ein Jugendlicher kommentiert meinen Hintern, ein paar Meter weiter will mir irgendjemand etwas über die Länge meiner Haare und meine Tattoos erzählen.

Jordon Alexander - Objects of My Affection

Fast einen Monat lang keine Berührung, keine Umarmung, ich bin manchmal kurz davor, meine Freunde anzurufen und sie zu bitten, sich mit mir in einem Hauseingang zu treffen, damit ich sie in den Arm nehmen kann und umgekehrt. Stattdessen sind da meine Pflanzen, ganz viel Licht in der Wohnung und eine Ruhe in mir, die ich vor Jahren nicht für möglich gehalten hätte. Diese Wirklichkeit als Gesunde zu erleben, nicht depressiv, ohne Stimmungsschwankungen, ohne lähmende Angst, ist weniger Herausforderung als ich es erwartet hatte. Es macht dankbar. Auch wenn sich gelegentlich Stress in mir aufbäumt, sich Trauer, weil ich manche Menschen übertrieben lange nicht gesehen habe, kurz in den Abend legt, ist alles gut. Ich habe früher viel darüber geschrieben, was sich tief in meine Knochen gelegt hatte, um das ich mich gekümmert habe. Seit meinem Dreißigsten ist für mich alles ein Extra, alles ein unerwartetes Plus, ich halte das weiter in meiner Hand, was sich gut anfühlt, bin auf eine Art gelassen, mir der der eine oder andere noch nicht zu tun hatte. Trotz der Umstände. Trotz der Erlebnisse. Man nennt das Resilienz.
Es ist wie beim Autofahren, wo einem in jeder Fahrschule gesagt wird, man solle dort hinschauen, wo man hinfahren will. Vor allem, wenn es um Kurven geht.

Was gäbe ich für eine Umarmung. Ich tanze dieses Bedürfnis momentan von innen nach außen.