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Im Dussmann sitzt ein älterer Herr, der einen Zettel voller Diagnosen in krakeliger Schrift in der Hand hält. Auf den ersten Blick wirkt er fit, auf den zweiten multimorbide. Du bist dir nicht sicher, wie hilfreich die medizinischen Lehrbücher vor ihm sind und setzt dich neben ihn. Er knickt ein paar Seiten beim Versuch etwas aufzuschreiben um, von anderen im Raum wird er nun angeknurrt.
Langsam blätterst du durch ein neu erschienenes Lehrbuch. Der Textfluss solle nicht gestört werden, deshalb verwende man das generische Maskulinum und meine damit alle. Du fühlst dich schon lange nicht mehr mitgemeint, schaltest in solchen Momenten ab und fragst dich, wie sich Menschen an einen veränderten Textfluss gewöhnen sollen, wenn alles so bleibt wie es ist. Vor allem fragst du dich, ob es hilfreich ist, wenn in der Medizin weiterhin ein Geschlecht das ausschlaggebendere sein soll. Sprache ist wichtig, sie manifestiert. Du denkst an all die Jahre, in denen du mit der eigenen Sprache nicht gut zu dir warst und freust dich über die neuen Worte, die du für dich und alle anderen gefunden hast. Es ist ruhig und bebt gleichzeitig vor sich hin. Freunde mit Geburtstagswünschen vor Rührung zum Weinen bringen können.
Einige hunderte Meter weiter kannst du dort raven, wo sie als Gimmick Teile der Mauer aufgebaut hatten. Da, wo es eine Schneise gen Bundesrat treibt, da konnten sie gegen Geld Mauerstücke abhacken, mit Meißel in der Hand, Helm auf dem Kopf und Smartphonefoto als Beweis. Da standen die Touristen, dreißig Jahre später nicht mehr im Todesstreifen sondern im Streifen der Geschmacklosigkeit, da stehen sie heute und warten vor der Würstchenbude und mit treibendem Bass auf ihre Version Berlin mit Ketchup und Currypulver.
Du spiegelst dich im südlichen Viadukt, in den Balken, dahinter oder vor dir der Potsdamer Platz aus dessen Bahnsteig sie den Bahnsteig gerissen haben. Ein Ballett aus Baufirmen, alle Bänke auf einem Haufen. Beton. Jedenfalls siehst du die U2 durch die Kurven schlendern, ziehst wieder Linien, protokollierst Wege im Großen und im Kleinen. Irgendwann werden sie in Rahmen an viel zu weißen Wänden hängen.
Luft in den Lungen, kalt, den Mantel knöpfst du immer noch erst bei Minusgraden zu; deine Fingerkuppen betrachtest du beim Winterspiel längst nicht mehr. Im großen Saal, im Filmtheater in der Kantstraße, trifft es dich wie ein Schlag in die Magengrube, beinahe zwei Stunden lang. Das gleiche Gefühl noch Tage später.
Und nun?
"There's nothing wrong with a little push."
(De Lux - Cool Up)
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