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Es ist vieruhrsechsundzwanzig, vor deinem Fenster, ein paar Meter tiefer, blüht der Flieder und du weißt nicht, ob du allergisch auf ihn reagierst. Im Hintergrund eine beruhigende aber dumpfe Stimme, bald lässt du dir beim HNO auf dein Trommelfell schauen. Nun ist es drei Minuten später und du denkst an die akustische Strömungsmessung, Doppler-Sonografie und das rupturierte Aneurysma im Kopf deines Großvaters.
Vor der Station eine Menge an Menschen, kurz vor Schmirgelpapier, so viele sind es, gegenüber bauen sie noch ein Hotel. Sechseinhalb Jahre Berlin und bisher immer fünfhundert Meter Luftlinie, Lobo und andere Speaker rauschen am Eingang an dir vorbei.
Dann zeigst du Orte und erkennst Muster, eine Art Plattentektonik, da sind deine Knotenpunkte, Linien kreuzen, grün und blau, eventuell erzählt das auch Geschichten über dich.
"Humans are like rivers," sagt Mikael Colville-Andersen. Als wäre dein Körper wie ein Neuron, deine Arme und Beine Dendriten und Axone. Addiert sich manches auf, sodass du es weitergeben kannst - wenn ja, was ist es? Anderes erreicht noch nicht einmal den Schwellenwert, gleicht sich aus zu einer runden Null. Das Alles-oder-Nichts-Gesetz. Du bist dort, wo deine Erinnerungen in Verflechtungen wohnen, millionenfach, milliardenfach, veränderst sie, sobald du sie betrittst wie einen Raum.
Da ist dein Haar, es setzt sich ein wenig ab auf deinem rostroten Mantel, im Sonnenlicht und im Wind ein Stoß nach vorne. Da ist keine entkalkte Seele mehr, da ist kein Rost, da ist vieles nachgewachsen, beinahe alles neu. Trotzdem kannst du noch nicht nicht weinen, wenn du S singen hörst. "Wir haben schon wieder einen von uns verloren" und das Gefühl, als wärest du ähnlichem knapp entkommen, damals in der Elbe, als du im Winter zwischen dem Eis triebst.
Du erinnerst dich an das, was du A schriebst, dass man mehr ist als Erkrankung und Trauer, und wie du seit dem letzten Jahr keine panische Angst mehr hast vor Rückfällen. Weil du auf festem Boden stehst, nicht auf Treibsand. Weil dir nichts die Füße wegreißt, du dir bewiesen und für dich gelernt hast, dass es weitergehen darf. Die weißen Strähnen ziehst du dir schon lange nicht mehr, lieber bleibt dein schallendes Lachen im Ohr, voller Vorfreude auf das, was auch du beinahe verpasst hättest. Tiny Changes, eine Hommage in einem Leben. Gut, dass du geblieben bist, dass ihr geblieben seid.
Schön, dass du da bist. Glaub mir, du bist keine Selbstverständlichkeit.
"Now I'm free in parenthesis."
(Frightened Rabbit - I Feel Better)
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